Wer regiert in NRW nach der Wahl? Auf die Plätze, fertig, Kraft!
12.05.2012, 09:56 Uhr
Wer will mit ihr vier Jahre lang regieren?
(Foto: picture alliance / dpa)
Jetzt zählt's. Der Wahlkampf ist vorbei. Ein Fünftel aller Deutschen darf am Sonntag in Nordrhein-Westfalen ein Kreuz auf den Stimmzettel setzen. Wenn die Menschen zwischen Rhein und Weser zur Urne gehen, schaut ganz Deutschland genau hin. Denn den NRW-Wahlen eilt ein Ruf voraus: Sie sind so etwas wie eine Generalprobe für die Bundestagswahl.

Die Landtagswahl in NRW ist die vorletzte vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr.
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Die Landtagswahl in dem bevölkerungsreichsten Bundesland gilt als Vorbote. Häufig leitete die "Glaskugel" NRW politische Trends ein, die sich schließlich im Bund wiederholten. Von 1966 an regierte eine sozialliberale Koalition Nordrhein-Westfalen. Drei Jahre später nahm auch auf den Ministerbänken im Bundestag eine Koalition aus SPD und FDP Platz. Eine Premiere im bundesdeutschen Parteiensystem. 1995 formierte sich eine rot-grüne Koalition zunächst in Düsseldorf, 1998 auch in Berlin. 2005 bildeten CDU und FDP dann die neue Landesregierung, mit bundespolitischen Folgen. Bei der anschließenden Bundestagswahl setzte sich der NRW-Trend fort, Rot-Grün verlor die Mehrheit. Und im Jahr 2012?
Das Parteiensystem hat sich verändert in den letzten Jahren. Mit den Piraten etabliert sich eine weitere Partei, die FDP steckt tief in der Krise und flog zuletzt aus mehreren Landtagen. Zusammen mit dem Politikwissenschaftler Gero Neugebauer hat n-tv.de die NRW-Wahl im Vorfeld untersucht. Spannend sind vor allem die Fragen: Wie wahrscheinlich sind die verschiedenen Koalitions-Optionen? Und welche neuen Optionen zeichnen sich ein Jahr vor der Bundestagswahl ab?
1. Rot-Grün (Wahrscheinlichkeit: 75 Prozent)
Bei der letzten Wahl hat es nicht gereicht. Hannelore Kraft wurde Ministerpräsidentin, aber ohne parlamentarische Mehrheit. Die Chancen stehen gut, dass sich das ändert. Die vorgezogenen Neuwahlen haben beiden Parteien offensichtlich genutzt. Die letzten drei Umfragen sahen knappe Mehrheiten für Rot-Grün voraus. Neugebauer tippt, dass beide Parteien am Wahlsonntag gemeinsam sogar 52 Prozent erreichen. "Die SPD hat sehr gut mobilisiert, auch weil die CDU mit Röttgen so abschmiert", sagt er.
Prognose für den Bund: "Es gibt keine Kurskorrektur auf beiden Seiten. SPD und Grüne wollen auch nächstes Jahr im Bund die Regierung bilden."
2. Minderheitsregierung mit Tolerierung der Piraten (11 Prozent)
SPD und Grüne wollen keine erneute Minderheitsregierung, heißt es aus Regierungskreisen. Und wenn sie keine andere Wahl haben? Neugebauer sagt: " Es könnte für SPD, Grüne und Piraten nützlich sein, die verfestigten Strukturen des Parteiensystems aufzubrechen. Sie sollten es wagen." Die Alternative sei eine Große Koalition und die sei "frustrierend und führt nur dazu, dass die kleinen Parteien an Zustimmung gewinnen".

Die Piraten könnten am Sonntag in das vierte Landesparlament einziehen.
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Neugebauer sieht große Kompatibilitäten zwischen SPD, Grünen und Piraten. Bei den Themen Nachhaltigkeit, Umweltschutz und sozialer Orientierung seien sie sich einig. Er nennt weitere Argumente, die für eine Zusammenarbeit sprechen: "Die Piraten fahren keinen Konfrontationskurs, sind keine Antipartei mit oppositionellen Inhalten." Der NRW-Piratenchef Michele Marsching hatte im Gespräch mit n-tv.de zuletzt schon erklärt, dass die Partei eine erneute Minderheitsregierung unterstützen würde. Diese Regierungsform kommt den Piraten entgegen, da sie nur bei einzelnen Themen eine Koalition eingehen müssten.
Eine Minderheitsregierung würde wohl eher an den anderen beiden Parteien scheitern. "Bei SPD und Grünen gibt es Vorbehalte. Viele sehen es kritisch, dass die Piraten ihnen Stimmen klauen", sagt Neugebauer. Dabei hätten die Polit-Neulinge zum Beispiel in Schleswig-Holstein vor allem von Wechselwählern von CDU und FDP profitiert.
Laut den letzten Umfragen können die Parteien in Nordrhein-Westfalen mit folgenden Ergebnissen rechnen:
- SPD: 37-38,5 Prozent
- CDU: 30-31 Prozent
- Grüne: 11 Prozent
- Piraten: 7,5-9 Prozent
- FDP: 5-6 Prozent
- Die Linke: 3-4 Prozent
Quelle: Infratest Dimap, 3. Mai 2012; Forschungsgruppe Wahlen, 4. Mai 2012; YouGov, 9. Mai 2012
Neugebauer stellt dem Modell Minderheitsregierung in NRW ein gutes Zeugnis aus. "Das war ein positiver Beitrag zur politischen Kultur. Es zeigt, dass die Parteien kooperieren und zum Wohle des Bürgers zusammenarbeiten können." Angesichts der komplizierteren Mehrheitsverhältnisse im neuen Sechsparteiensystem werde diese Regierungsform zukünftig eine größere Bedeutung haben.
Prognose für den Bund: "Im Land ist die Option realistisch, im Bund nicht. Das Vertrauen der Wählerschaft in Minderheitsregierungen ist nicht hoch genug. Außerdem wären die Vorbehalte der Bundesparteien größer. Die SPD ist in manchen Dingen wie der 'olle' Adenauer. Sie will keine Experimente machen."
3. Große Koalition (9 Prozent)
Es gebe Teile in der SPD, die nichts gegen eine Große Koalition einzuwenden hätten, sagt Neugebauer. Röttgen würde keine Rolle mehr spielen, die SPD stattdessen mit altbekannten Stallleuten wie Karl-Josef Laumann zusammenarbeiten. Mit dem Schulfrieden sei ein großer Streitpunkt zwischen den Parteien weggefallen.
SPD-Politiker Peer Steinbrück dagegen warnt vor Schwarz-Rot im Düsseldorfer Landtag. Im "Kölner Stadt-Anzeiger" erinnerte er an die "schlechte Erfahrung" mit dem Regierungsbündnis in Berlin von 2005 bis 2009. "Die SPD wurde für gute Arbeit vom Wähler nicht belohnt, sondern im Gegenteil mit einem sehr schlechten Ergebnis bestraft", sagt er.
Neugebauer hält eine Große Koalition in NRW, es wäre die erste überhaupt, für unwahrscheinlich. "Sie wäre so kurz vor der Bundestagswahl ein zu heftiges Signal gegen Rot." Es liege an SPD und Grünen, stattdessen die Herausforderung einer Minderheitsregierung mit Tolerierung der Piraten anzunehmen.
Prognose für den Bund: "Im Bund ist eine Große Koalition wahrscheinlicher als eine Ampel oder eine Minderheitsregierung, das gilt vor allem dann, wenn sich die Euro-Krise verschärft. Die SPD wirft eine Große Koalition unter Führung der Union um Jahre zurück. Aber sie hat den Hang, staatspolitische Verantwortung übernehmen zu wollen."
4. Ampel (5 Prozent)
Im Wahlkampf diskutierten viele über die Ampel. Es gebe eine sozialliberale Tradition in NRW, sagte FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner. Umso näher die Wahl rückt, desto heftiger betonen Spitzenpolitiker der drei Parteien aber ihre Abneigung gegenüber einer Ampel. "Die Unterschiede zu den Grünen sind fundamental", sagt Lindner. Die FDP wolle nicht das Zünglein an der Waage sein. Die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann entgegnete: Die FDP habe sich an keiner Stelle erneuert. Lindner sei gegen alles, wofür die Grünen stünden. "So wie die Akteure aufeinander eingestellt sind, halte ich eine Ampel eigentlich für ausgeschlossen", sagt Neugebauer.
Inhaltlich gibt es noch große Unterschiede zwischen den Parteien. "Die Grünen wollen den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und die FDP etwas ganz anderes", sagt Neugebauer. Für ihn gib es vor allem zwei Hindernisse für eine Ampel: Die Abneigung zwischen FDP und Grünen und die Tatsache, dass "ihr sozialdemokratisches Fossil Wolfgang Clement als Berater der FDP verdeckt eine Rolle spielt".
Für eine Ampel läge es vor allem an der FDP, sich zu öffnen, aber das wäre eine große Kraftanstrengung und erfordere den Wechsel von Personen. Neugebauer: "Lindner hat Signale gesendet. Aber das ist die Haltung von jemandem, dem das Wasser bis zum Hals steht."
Prognose für den Bund: "Man hat schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen. 'Friss oder stirb' muss sich die FDP fragen. Wenn sie fressen will, dann muss sie sich verändern. Es muss eine Palastrevolution geben. Für Rot-Grün wäre es mit den Liberalen berechenbarer als eine Tolerierung durch die Piraten. Aber es hängen insgesamt viele 'Abers' dran."
Quelle: ntv.de, mit dpa