Kiews Fundraising-Armee Bedingt abwehrbereit
29.05.2014, 14:41 Uhr
Ein ukrainischer Soldat in der Nähe von Wolnowacha in der umkämpften Oblast Donezk.
(Foto: REUTERS)
Seit dem Ende der Sowjetunion fuhr die Ukraine ihr Militärbudget nach unten. Warum auch aufrüsten mit der russischen Schutzmacht in der Nachbarschaft? Doch die Zeiten ändern sich - und plötzlich steht das Land vor einem Dilemma.
Auch Vitali Klitschko setzt auf Fundraising. Für die ukrainische Armee würden auch "Spenden aus der Bevölkerung" gebraucht, erklärte der frühere Profiboxer nach seiner Wahl zum Bürgermeister von Kiew. Schließlich kämpften die Soldaten "für die Sicherheit aller Ukrainer". Tatsächlich sammelt das ukrainische Verteidigungsministerium schon seit Wochen. Auch per SMS können Ukrainer 5 Griwna, also 31 Cent, spenden. Nach offiziellen Angaben kamen bisher umgerechnet knapp 9.400.000 Euro zusammen.
Das Spendenkonto ist nur eine von vielen verzweifelten Maßnahmen, um das Militär zu verstärken. Bereits seit März sucht Kiew Freiwillige für eine neue Nationalgarde. Wer dort mitmachen will, muss nicht mal Militärdienst geleistet haben. Tausende Ukrainer wurden bereits in speziellen Trainingscamps ausgebildet. Und nicht nur das: Ein halbes Jahr nach dessen Abschaffung führte Übergangspräsident Alexander Turtschinow zuletzt auch den Wehrdienst wieder ein. Die Begründung: die "Verschlechterung der Sicherheitslage" sowie die "nackte Aggression" prorussischer Milizen.
Spenden, Freiwilligenarmee, Wehrdienst - was soll das? Es ist ganz einfach. Die Unruhen im Osten des Landes erwischen die Regierung zur Unzeit und machen die eigene Schwäche nur noch offensichtlicher. Die Ukraine hat ein Verteidigungsproblem. Die Armee befindet sich in einem desolaten Zustand. Sie ist - höflich ausgedrückt - nur bedingt abwehrbereit.
"Es gab keine Bedrohungen"
Seit dem Ende der Sowjetunion wurde die ukrainische Armee eher geschrumpft als reformiert. Noch Anfang der 90er betrug die Truppenstärke mehr als 600.000 Mann, heute sind es laut Zahlen des Internationalen Instituts für strategische Studien (IISS) lediglich 130.000. Dazu kommen rund 85.000 paramilitärische Einheiten von Küsten- und Katastrophenschutz sowie den Geheimdiensten. "In der Ukraine hat man keine Notwendigkeit gesehen, ein starkes Militär aufzubauen. Es gab keine Bedrohungen, und das Land hatte anders als Russland nie den Anspruch, eine Schutzmacht zu sein. Auf eine Situation wie jetzt ist man daher überhaupt nicht vorbereitet", sagt die Militärexpertin Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik n-tv.de.
Dazu leidet die Ukraine unter strukturellen Defiziten. Durch Korruption floss ein Großteil der Gelder für das Verteidigungsministerium in andere Kanäle. Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage fehlte seit Jahren das Geld, um die nötigen Reformen anzuschieben. Die Folge ist unter anderem der schlechte Sold für die Soldaten. Russische Offiziere verdienen heute mindestens das 2,5-fache als die in der Ukraine. Was für Folgen das hat, zeigen die Auseinandersetzungen um die Krim. Eines der größten Probleme in der Truppe ist die mangelnde Loyalität. Im März liefen 10.000 Soldaten der ukrainischen Schwarzmeerflotte über zur russischen Armee. Denis Beresowski wurde am 1. März zum Befehlshaber der ukrainischen Armee ernannte, gleich am nächsten Tag lief er über. Auch in den vergangenen Wochen wechselten unzählige ukrainische Soldaten die Seiten.
Nur 6000 Soldaten einsatzbereit
Nach offiziellen Angaben hat die Ukraine zwar 130.000 Soldaten und eine Million Reservisten, kampf- und einsatzbereit sind laut Expertin Klein jedoch nur etwa 6000 Mann. Grund ist vor allem der schlechte Ausbildungsstand. Bei der ukrainischen Luftwaffe erhält ein Pilot nur 40 Übungsflugstunden im Jahr, bei der russischen sind es 100. Für die Pilotenausbildung fehlt Kerosin, für Schießübungen Munition und für Treibstoff und Wartung das Geld. Seit Jahren wird in militärischen Einrichtungen immer häufiger der Strom abgeschaltet, weil die Rechnungen nicht bezahlt werden können. Andry Parubi, seit Ende Februar Chef des nationalen Sicherheitsrates, war "geschockt", als er seine Arbeit aufnahm. "Wir hatten nicht einmal mehr Benzin, um Fahrzeuge und Panzer zu betanken", sagt er.
Ein Modernisierungsproblem offenbart auch die Technik. Der Großteil der Waffen und Panzer des ukrainischen Militärs stammt noch aus der Sowjetzeit und aus den Beständen der Roten Armee. So gibt es mehr als 1000 Exemplare der 50 Jahre alten T-64 Panzer, von dem modernen Modell T-84 allerdings nur ein Dutzend. "Die Ukraine hat eine passable Rüstungsindustrie im Osten des Landes", sagt Klein. "Sie ist stark exportorientiert. Einer der größten Kunden ist China. Kaum etwas erreicht die ukrainische Armee, weil man aus finanziellen Gründen nicht so viel anschaffen kann."
Schwieriger Städtekampf
Militärisch ist die Ukraine im Vergleich mit Russland also deutlich unterlegen - qualitativ und quantitativ. Die Regierung von Wladimir Putin verfügt laut IISS über 850.000 Soldaten und 20 Millionen Reservisten. Seit 2008 gibt es ein großes Rüstungsprogramm, dass vor allem Ausrüstung und Ausbildung zugute kommt. "Aber auch auf russischer Seite gehen 30 Prozent des Budgets durch Korruption verloren", sagt Klein.
Für die Militärexpertin sind die Freiwilligenarmee und die Wiedereinführung der Wehrpflicht nur der Anfang. Sicherheitspolitische Reformen müssten für die Regierung in Kiew und den neuen Präsidenten Petro Poroschenko jetzt höchste Priorität haben. In einem Städtekampf, wie er sich im Osten des Landes abspiele, hätte jede Armee Schwierigkeiten. Der Anti-Terror-Einsatz sei aufwändig, aber nötig. "Die ukrainische Regierung steckt in einem Dilemma", sagt Klein. "Wenn sie nicht gegen die Aufstände vorgeht, ermutigt sie die Separatisten, weitere Gebiete zu besetzen. Außerdem muss sie die Sicherheit der Bürger gewährleisten."
Vitali und Wladimir Klitschko haben sich derweil bereits entschlossen, der ukrainischen Armee zu helfen. Die beiden aus der Ukraine stammenden Brüder spendeten allerdings kein Geld. Sie finanzierten der neuen Nationalgarde schusssichere Westen - für den Kampf gegen die Separatisten.
Quelle: ntv.de