Was passiert in Ägypten? Bewährungsprobe der Revolution
06.12.2012, 18:23 Uhr
In Kairo versucht die Armee, die Demonstrantengruppen vom Präsidentenpalast fern zu halten.
(Foto: AP)
In der ägyptischen Hauptstadt Kairo überschlagen sich die Ereignisse: Keine drei Wochen hat das Volk Zeit, sich für oder gegen die Verfassung zu entscheiden, die das Land zu einem islamistisch geprägten Staat machen würde. Die Jugend will ihre Revolution zurück, der Präsident spielt auf Zeit.
Keine zwei Jahre nach dem Erfolg der ägyptischen Revolution stehen sich auf den Straßen Kairos wieder Menschenmassen gegenüber und werfen mit Steinen. Sieben Tote hat es in der Nacht zu Donnerstag gegeben, viele hundert Menschen wurden verletzt.
Es geht um die Frage, wie das neue Ägypten gestaltet sein soll: als Demokratie nach westlichem Vorbild oder als islamistischer Staat, der seine Regeln vor allem aus der Scharia ableitet. Das Volk ist gespalten: Die Bevölkerung aus den Städten, zu großen Teilen jung und gut gebildet, orientiert sich an Europa und den USA. Die traditionellen Kräfte kommen vor allem vom Land, eine gottesfürchtige Regierung ist ihnen wichtiger als Minderheitenrechte. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Gruppen, die mit beiden Seiten wenig zu tun haben: koptische Christen und radikale Salafisten etwa. Bei den Wahlen zeigte sich, dass die Traditionalisten, vertreten durch die Partei der Muslimbrüder, die stärkste Kraft im Land sind, aber nicht die Mehrheit der Ägypter vertreten.
Die Spaltung seines Volkes in modern und traditionell kann Präsident Mohammed Mursi nicht überwinden. Zwar gilt er als gemäßigter Islamist, der die Interessen beider Seiten ausbalancieren kann. Um das zu betonen, trat er nach seinem Wahlsieg aus der Partei der Muslimbrüder aus, empfing westliche Außenminister und vermittelte erfolgreich im Israel-Palästina-Konflikt. Doch auf der Straße stehen sich Muslimbrüder und Liberale unversöhnlich gegenüber.
Mursi hat Fehler gemacht
Scheinbar geht es dabei um die Verfassung, die Mursi gerne verabschieden würde: Aus westlicher Sicht ist der Bezug auf die Scharia problematisch. Was der Text zu Frauen besagt, lässt sich als Diskriminierung auslegen. Explizit erwähnt wird die Rolle von Schriftgelehrten: Dass diese in den politischen Prozess eingebunden werden, stößt bei den modernen Ägyptern, die die Revolution vorangetrieben haben, auf Unverständnis.
Hinzu kommt, dass Mursi keine Achtung vor der Justiz zeigt. Er entmachtete die Gerichte und seine Anhänger blockierten das Gebäude des Verfassungsgerichts so lange, bis die Richter ihre Arbeit niederlegten.
Sowohl den Verfassungsentwurf als auch die Entmachtung der Justiz sieht der Nahost-Experte Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr in München nicht als den Hauptgrund für die aktuelle Eskalation. Die Richter aus der Mubarak-Zeit habe Mursi früher oder später entmachten müssen und die islamistische geprägte Verfassung sei in der Region nichts Ungewöhnliches.
"Einen Weg zurück gibt es nicht"
Das Problem liege vielmehr im undiplomatischen Vorgehen des Präsidenten: "Mursi kümmert sich nicht um einen nationalen politischen Dialog", sagt Stetter im Gespräch mit n-tv.de. Dabei wäre dieser Dialog bei der Ausarbeitung einer Verfassung zwingend nötig. Stattdessen weitete der Präsident seine Befugnisse per Dekret aus, kurz bevor der Verfassungsentwurf veröffentlicht wurde, den die Muslimbruderschaft mit ihrer Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung durchgedrückt hatte. Seine Ermächtigungsdekrete werde er erst wieder zurücknehmen, wenn die Verfassung verabschiedet wurde, gab Mursi bekannt. Die Ägypter sollen darüber schon am 15. Dezember entscheiden. "Der Präsident erpresst sein Volk", sagt Stetter: Entweder nimmt es die Verfassung an oder der Präsident behält seine diktatorischen Rechte.
Sollte Mursi bei seiner undiplomatischen Linie bleiben, ist das Land nicht viel weiter als im Januar 2011, als sich hunderttausende Demonstranten auf dem Tahir-Platz versammelten um gegen Diktator Husni Mubarak zu protestieren. Der Schritt zurück wird für Mursi nicht leicht. "Das ist für einen Politiker nie einfach, denn er macht sich dadurch politisch angreifbar", sagt Politologe Stetter. Schafft er es nicht, kommt es auf die Armee an: Verteidigt sie Mursi gegen sein Volk oder wagt sie gar den Putsch? Schon Anfang 2011 organisierte die Armee den Machtübergang.
Mit seiner Fernsehansprache hat sich Mursi noch nicht entschieden, welchen Weg er gehen möchte. Er verurteilte zwar in scharfen Worten die Gewalt und bestand auf seinen Ermächtigungsdekreten sowie dem Verfassungsreferendum. Gleichzeitig gab er sich aber auch dialogbereit und lud Vertreter der Opposition zu Gesprächen ein, die am Samstag stattfinden sollen. Außerdem machte er klar, dass er es akzeptieren würde, wenn das Volk den Verfassungsentwurf ablehnt. Damit dürfte er zumindest etwas Zeit gewonnen haben. Ob er es mit der Demokratie ernst meint oder nicht, ist weiterhin unklar.
"Wir erleben die Bewährungsprobe der Revolution", sagt Stetter. Er ist optimistisch und glaubt nicht, dass sich ein autoritäres Regime auf Dauer in Ägypten halten kann. "Einen Weg zurück gibt es nicht."
Quelle: ntv.de