Fehlende Fachkräfte Brüderle sieht Milliardenschaden
18.10.2010, 13:58 Uhr
Brüderle will Spezialisten aus dem Ausland in großer Zahl nach Deutschland holen.
(Foto: dpa)
Wirtschaftsminister Brüderle wirbt offensiv um ausländische Fachkräfte, der Mangel an Spezialisten gefährde den Wohlstand. Brüderle will deshalb die Einkommensgrenze für Ausländer absenken und ein Punktesystem für Zuwanderer einführen. Nach Ansicht des Instituts der deutschen Wirtschaft braucht Deutschland andere Signale des Willkommens.
Die dramatische Fachkräftelücke kostet die Gesellschaft nach Angaben von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle jährlich Milliarden. So habe der Personalmangel allein im Krisenjahr 2009 zu Wohlstandsverlusten von etwa 15 Milliarden Euro geführt, sagte Brüderle. Der FDP-Politiker setzte sich deshalb mit Nachdruck für eine Reduzierung der Einkommensgrenze von derzeit 66.000 Euro ein, um mehr hoch qualifizierte Ausländer mit einem dauerhaftem Bleiberecht ins Land holen zu können. "Wir sind der Meinung, dass man das auf 40.000 Euro absenken sollte."
Mit Blick auf die provokanten Äußerungen von CSU-Chef Horst Seehofer erklärte Brüderle, Zuwanderung dürfe sich nicht nach Herkunft und Religion richten. "Wir entscheiden nach Qualität." Im ZDF hatte Brüderle zuvor gesagt: "Das ist meines Erachtens Stimmungsmache." Der Wirtschaftsminister forderte - wie auch die Grünen - ein Punktesystem für die Zuwanderung qualifizierter Zuwanderer, das der CSU-Vorsitzende ablehnt und auch in der Union umstritten ist. Am Wochenende hatte sich überraschend der Chef der Jungen Union, Philipp Mißfelder, bei n-tv.de für ein solches Punktesystem ausgesprochen.
Seehofer sagte, Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern täten sich schwerer bei der Integration. Daraus ziehe er den Schluss, "dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen". Brüderle plädierte dagegen für eine "Willkommenskultur" und attraktivere Bedingungen für ausländische Fachkräfte. "Wir sind offensichtlich in den bürokratischen Abwicklungen unattraktiv und wir sind offenbar auch in den Nettoeinkommen nicht so attraktiv."
"Andere Signale des Willkommens"
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft Köln forderte eine Zuwanderung von Fachkräften. In den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik habe Deutschland "erhebliche Defizite und Lücken, die wir auch nicht aus dem Inland füllen können", sagte IW-Direktor Michael Hüther bei n-tv. "Wir können ja nicht Langzeitarbeitslose über die Nachbearbeitung der Bildungsbiographie mal eben zu Ingenieuren machen."
Ein Punktesystem sei "sicherlich hilfreich", meinte Hüther. Deutschland sei mittlerweile ein "Netto-Abwanderungsland" geworden. "Wir wollen Zuwanderung", so Hüther. "Wir müssen andere Signale des Willkommens setzen." Das deutsche Zuwanderungsrecht sei "immer noch ein Recht der Verhinderung von Zuwanderung".
Schwarz-Gelb entscheidet im November
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir geht fest davon aus, dass die Zuwanderung von Fachkräften künftig per Punktesystem geregelt wird. Schon die rot-grüne Bundesregierung habe einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, dafür aber keine Mehrheit bekommen, sagte er im ZDF. "Wir werden in den nächsten Jahren, wahrscheinlich früher als später, ein Zuwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild mit Punktesystem bekommen. Ich gehe jede Wette ein."
Die Spitzen der schwarz-gelben Koalition wollen am 18. November darüber beraten, wie angesichts des Fachkräftemangels mehr qualifizierte Arbeitnehmer nach Deutschland geholt werden können. Daraus würden die zuständigen Fachminister dann ein Konzept entwickeln, was über die bestehenden Regelungen hinaus zu tun sei, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Dies werde mit Gewerkschaften und Unternehmerverbänden abgesprochen.
Zehntausende Spezialisten fehlen

Er hat es geschafft: Der aus Syrien stammende Neurochirurg Dr. Samir Kazkaz arbeitet im Marienhospital in Lünen.
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Aktuell fehlen nach Angaben des Bundes 36.000 Ingenieure und 66.000 Computerspezialisten. Die Regierung plant nun, Berufsabschlüsse von bereits in Deutschland lebenden Zuwanderern schneller anzuerkennen. Sie sollen einen Rechtsanspruch darauf bekommen, dass das Verfahren nicht länger als drei Monate dauert, wenn alle nötigen Nachweise vorliegen. Dies sieht ein Gesetzentwurf des Bundesbildungsministeriums vor. Das Ministerium schätzt, dass etwa 300.000 Menschen, die in Deutschland leben, von dem Gesetz profitieren werden - außerdem Zuwanderer, die neu ins Land kommen.
Derzeit müssen Einwanderer oder Deutsche, die im Ausland Abschlüsse erworben haben, oft jahrelang auf einen Bescheid warten, was ihre Zeugnisse hierzulande wert sind. Außerdem sind für die Anerkennung viele verschiedene Behörden und Kammern zuständig, auch sind die Regelungen sehr unübersichtlich. Das Gesetz könnte bereits im kommenden Jahr in Kraft treten.
Brüderle kündigte zudem eine neue Datenbank an, in der ausländische Bewerber ihre Abschlüsse bewerten lassen können. Das Internetportal werde voraussichtlich Ende des Jahres starten. Der Wirtschaftsminister will bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels zweigleisig fahren: "Wir müssen inländische Potenziale besser ausschöpfen und durch intelligente Integrationspolitik ausländische Fachkräfte gewinnen."
Druck auf Integrationsverweigerer
Die Koalition will aber nicht nur die Integration qualifizierte Migranten erleichtern, sondern zugleich Integrationsverweigerer stärker unter Druck setzen. Nach einem Bericht der "Neuen Osnabrücker Zeitung" will Schwarz-Gelb noch in diesem Monat ein Gesetzespaket auf den Weg bringen, mit dem ein härteres Durchgreifen gegen Integrationsverweigerer ermöglicht wird. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Hans-Peter Uhl, sagte dem Blatt: "Wir werden die Träger von Integrationskursen gesetzlich verpflichten, den Sozial- und Ausländerbehörden sofort zu melden, wenn Migranten trotz Teilnahmepflicht Kursen fernbleiben." Auch sei ein lückenloser Daten-Austausch zwischen Arbeitsagenturen und Ausländerbehörden geplant.
Wie groß das Problem der Integrationsverweigerung allerdings wirklich ist, lässt sich derzeit noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Nach Informationen des "Spiegel" will Bundesinnenminister Thomas de Maizière deshalb noch in dieser Woche bei den Bundesländern abfragen, wie hoch die Zahl derjenigen ist, die Integrationskurse schwänzen oder abbrechen. Erste Ergebnisse aus Niedersachsen deuten demnach darauf hin, dass gerade einmal 3,8 Prozent der Teilnehmer die Kurse nicht antreten oder vorzeitig beenden. Zu Sanktionen soll es bei 2,6 Prozent gekommen sein.
Quelle: ntv.de, tis/jmü/dpa/AFP/rts