Gleisbesetzungen, Treckerblockaden, Massenproteste Castor-Zug erreicht Hessen
06.11.2010, 19:50 Uhr
Abgeseilte Greenpeace-Aktivisten - doch der Zug rollt schon wieder.
(Foto: REUTERS)
Anti-Atom-Bewegung im Höhenflug: Während der Castor-Transport in Richtung Wendland rollt, protestieren dort so viele Atomkraftgegner wie nie zuvor. Von 50.000 Demonstranten sprechen die Veranstalter. Der friedliche Protestauftakt wird von ersten Ausschreitungen überschattet.
Noch stehen die Zahlen nicht fest, doch in jedem Fall ist es die bisher größte Anti-Castor-Demonstration im Wendland. Neben Einheimischen wie den Mitgliedern der Bäuerlichen Notgemeinschaft protestierten Politiker und Prominente gegen den Castor-Transport, gegen Gorleben als Endlager für Atommüll und gegen die Laufzeiten-Verlängerung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung.

Es ist die wohl größte Demonstration im Wendland seit dem ersten Castor-Transport im Jahr 1995.
(Foto: dpa)
Die Grünen-Chefs Claudia Roth und Cem Özdemir kamen als Beifahrer auf einem Traktor, Linken-Fraktionschef Gregor Gysi setzte sich selbst ans Steuer. Auch die Moderatorin und Schriftstellerin Charlotte Roche und der Ärzte-Schlagzeuger Bela B. kamen zur Kundgebung nach Dannenberg. "Es gibt in diesem Land nur noch eine Minderheit, die Atomstrom will", sagte Bela B. "Ich will mit dabei sein, wenn ein Zeichen gegen die Atompolitik gesetzt wird."
"Seit fünfzig Jahren produzieren wir diesen Müll, ohne zu wissen, wo wir ihn entsorgen können", sagte die Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Kerstin Rudek, auf der Kundgebung in Splietau bei Dannenberg. All die Jahre seien die Deutschen belogen und betrogen worden. "Wir fordern die Abschaltung aller Atomanlagen in Deutschland."
50.000 oder 20.000
Zehntausende kamen nach Splietau - der Umladebahnhof, wo die Atommüll-Behälter frühestens an diesem Sonntag für die letzten Kilometer nach Gorleben auf Schwertransporter verladen werden, liegt ganz in der Nähe. Die Veranstalter zählten 50.000 Demonstranten, die Polizei dagegen nur etwas mehr als 20.000.
Nach Angaben der Anti-Castor-Initiative X-tausendmalquer saßen zahlreiche Menschen zunächst noch in Verkehrsstaus auf den Zufahrtsstraßen fest. Der Verkehr sei zusammengebrochen, sagte auch ein Polizeisprecher in Lüneburg. Die bislang höchste Teilnehmerzahl bei einer Kundgebung im Wendland war 2008 mit 14.500 Demonstranten erreicht worden.
Der Protest blieb zunächst weitestgehend friedlich. Am Rande lieferten sich Autonome allerdings erste Rangeleien. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Pfefferspray gegen rund 150 Demonstranten ein.
"Tschernobyl auf Rädern"
Der Geschäftsführer von Greenpeace International, der Südafrikaner Kumi Naidoo, richtete vor den Demonstranten einen Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Was Sie hierher bringen, ist Tschernobyl auf Rädern. Befreien Sie sich von der Tyrannei des großen Geschäftes."
Die Kanzlerin solle die Castor-Transporte mit radioaktivem Atommüll stoppen und den Salzstock in Gorleben als künftigen Endlagerstandort für die Entsorgung des Atommülls aufgeben. Merkel soll stattdessen den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben. "Seien Sie die Anführerin einer wirklichen Energierevolution", forderte Naidoo die Kanzlerin auf.
Castoren werden immer wieder blockiert
Unterdessen sind ein paar hundert Kilometer weiter südlich 11 Castor-Behälter mit hoch radioaktivem Atommüll auf dem Weg zum Zwischenlager Gorleben. Immer wieder blockieren Anti-Atom-Aktivisten die Gleise: Gleich kurz nach dem Start ketteten sich mehrere Atomkraftgegner bei Caen an die Gleise und stoppten den Zug für drei Stunden. Sieben Aktivisten, darunter ein Deutscher, wurden festgenommen.
Gegen 13.50 Uhr überquerte der Castor-Zug die Rheinbrücke zwischen Straßburg und dem baden-württembergischen Kehl. Der Zug hätte eigentlich weiter nördlich zum französischen Grenzort Lauterbourg und weiter nach Berg in Rheinland-Pfalz fahren sollen.
Atomkraftgegner werteten die erzwungene Änderung der Route als großen Erfolg: Trotz abgesperrter Gleise hatten Demonstranten den Zug bei Berg aufgehalten. Nach Polizeiangaben blockierten weit über 500 Demonstranten die Bahnstrecke, Atomkraftgegner sprachen von mehr als 1000. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace berichtete, zwei ihrer Aktivisten hätten sich auf der französischen Seite bei Lauterbourg an die Gleise gekettet und den Castor aufgehalten. Sie wurden aber nach kurzer Zeit entfernt.
Wartezeit in Kehl
Am frühen Abend verließ der Castor-Transport den Bahnhof von Kehl. Dabei fuhr der Zug über eine Brücke, von der sich Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace abgeseilt hatten. Die Polizei hatte nichts unternommen, um die drei Umweltschützer zu entfernen. Später passierte er ungehindert Karlsruhe, obwohl dort zunächst laut Polizei Atomkraftgegner die Sperren entlang der Gleise regelrecht überrannt hatten.
Castor-Gegner vermuten, dass der Zug nun über Mannheim nach Darmstadt und von dort nach Niedersachsen fährt. Der Zug war am Freitag vom Verladebahnhof Valognes in Nordfrankreich zum deutschen Zwischenlager Gorleben gestartet.
Die Castor-Behälter enthalten insgesamt 154 Tonnen hochradioaktiven Müll aus deutschen Atomkraftwerken, die im französischen La Hague wiederaufarbeitet wurden. Nach der Ankunft im Verladebahnhof in Dannenberg sollen die Behälter auf Tieflader gehievt und das letzte Stück auf der Straße ins oberirdische Zwischenlager Gorleben gebracht werden. Dort wird der Atommüll-Transport nach dem bisherigen Zeitplan am Montagmorgen erwartet.
Merkel warnt vor Schottern
Einige Atomkraftgegner haben angekündigt, mit der Aktion "Castor? Schottern!" entlang der Strecke Löcher ins Gleisbett zu graben. Kanzlerin Merkel warnte die Demonstranten vor Auswüchsen. "Ich sage ausdrücklich, Demonstrieren ist eine der schönsten Freiheiten, die eine freiheitliche Gesellschaft mit sich bringt", sagte sie in Bonn beim Landesparteitag der CDU. Die Proteste müssten aber friedlich bleiben. Was so harmlos daherkomme, wie das sogenannte Entschottern, "das ist keine friedliche Demonstration, sondern eine Straftat".

Das im französischen Valognes mit einer Infrarotkamera aufgenommene Bild zeigt das Wärmebild eines Castor-Behälters.
(Foto: dapd)
Der Umweltschutzorganisation Greenpeace zufolge ist die Radioaktivität des Mülls doppelt so hoch wie jene, die bei der Katastrophe im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl freigesetzt wurde. Die Ladung strahle deutlich stärker als bei früheren Transporten, weil die Brennelemente länger in deutschen Atomkraftwerken genutzt worden seien.
Quelle: ntv.de, hvo/dpa/AFP/rts