Putin-Gegner äußert sich in Moskauer Zeitschrift Chodorkowski: Unglaubliches Gefühl der Freiheit
20.12.2013, 11:34 Uhr
Eine zwei Jahre alte Aufnahme Chodorkowskis während seines Prozesses in Moskau.
(Foto: AP)
Mit Verhandlungsgeschick erreicht die lebende Diplomatie-Legende Hans-Dietrich Genscher die Freilassung des Kreml-Kritikers Michail Chodorkowski. Jetzt hat der Putin-Gegner sich erstmals seit seiner Ankunft in Berlin geäußert und plant bereits eine Pressekonferenz.
Der aus dem russischen Straflager entlassene und nach Berlin gereiste Kremlgegner Michail Chodorkowski will sich für andere Gefangene in seinem Land einsetzen. "Es gibt noch viel zu tun, die Freilassung der Geiseln, die noch im Gefängnis sind, vor allem Platon Lebedew", sagte Chodorkowski der kremlkritischen Zeitschrift "The New Times" in Moskau, für die er als Autor schreibt. Lebedew war der Geschäftspartner des einstigen Ölmilliardärs Chodorkowski und wurde zeitgleich mit ihm in zwei international umstrittenen Verfahren unter anderem wegen Steuerbetrugs verurteilt. Für Sonntag hat der Russe am Vormittag eine Pressekonferenz anberaumt, auf der er über seine Pläne sprechen will.
"Nach zehn Jahren ist das jetzt ein unglaubliches Gefühl der Freiheit", sagte Chodorkowski in einem kurzen Anruf bei "The New Times". Er sei allen dankbar, die geholfen hätten, damit er das Straflager verlassen könne. "Das Wichtigste ist jetzt: Freiheit, Freiheit, Freiheit."
In Berlin traf Chodorkowski mittlerweile seinen ältesten Sohn Pawel. "Der älteste Sohn von Michail Borissowitsch, Pawel, hat seinen Papa schon getroffen. Sie sind jetzt in Berlin zusammen", sagte Chodorkowskis Sprecherin Olga Pispanen dem russischen Rundfunksender Moskauer Echo. Den genauen Zeitpunkt des Wiedersehens nannte sie nicht. Auch die Eltern des einstigen Oligarchen sind am Vormittag in Berlin eingetroffen.
Genschers Coup

Pawel Chodorkowskis Sohn Pawel bei der Vorstellung des Buches "Briefe aus dem Gefängnis" vor zwei Jahren in Berlin.
(Foto: dpa)
Die Äußerung gegenüber der Moskauer Zeitschrift war die erste des 50-jährigen Kreml-Kritikers seit seiner Ankunft in Berlin am Freitagnachmittag. Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte ihn nach Deutschland gelotst. Der 86-Jährige holte ihn persönlich am Flughafen Berlin-Schönefeld ab - noch bevor die Fotografen in Position waren, um das an diesem Tag begehrteste Bild zu schießen. Chodorkowski kam mit einem Firmenflugzeug nach Berlin, das Genscher organisiert hatte - direkt aus einem russischen Straflager.
Genscher erzählte den ARD-Tagesthemen später: "Ich habe im Auto, obwohl ich Russisch nicht verstehe, die Gespräche miterlebt mit seinen Familienangehörigen, das war schon anrührend." Und: "Ich glaube, dass er jetzt durchatmen wird und darauf warten wird, dass er morgen seine Familie in die Arme schließen kann."

Äußerst wortkarg verlässt Genscher das Hotel "Adlon". Ob Chodorkowski nun darin wohnt, sagt er nicht.
(Foto: dpa)
Ohne eine Bestätigung dafür erhalten zu haben, gehen Beobachter davon aus, dass Chodorkowski im Berliner Hotel "Adlon" logiert. Zumal Genscher am späten Freitagnachmittag eben dieses Hotel verließ - im schwarzen Mantel, durchs Revers leuchtete das Genscher-typische Gelb. Als ihn die Journalisten umzingelten, blieb er wortkarg. Ja, Chodorkowski sei in Berlin. Nein, er wolle nicht mehr sagen. Es gebe dazu eine - nüchterne - Pressemitteilung. Und dann fuhr er in einer schwarzen Limousine davon.
Hinter den Kulissen verhandelt
In der Erklärung dankte Chodorkowski Genscher für dessen "persönlichen Einsatz" bei seiner Freilassung. Auf seiner Webseite erklärte er dann, er habe am 12. November ein Gnadengesuch an Putin gerichtet und dabei familiäre Gründe angeführt. Damit habe er aber keineswegs eine Schuld eingestanden. In der ARD sagte Genscher, er habe Putin zweimal persönlich getroffen, um mit ihm über den Fall zu reden.
Lob erhielt Genscher auch aus dem Kanzleramt. Der Ex-Minister habe sich - mit Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und des Auswärtigen Amts - "erfolgreich um Lösungswege bemüht", teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Merkel erklärte, Genscher habe sich "hinter den Kulissen intensiv um den Fall gekümmert". Sie begrüße die Freilassung Chodorkowskis aus der Haft.
Die russische Strafvollzugsbehörde teilte kurz nach der Freilassung auf ihrer Webseite mit, dass Chodorkowski persönlich um Reisepapiere gebeten und Russland mit dem Flugzeug in Richtung Deutschland verlassen habe, wo seine krebskranke Mutter behandelt werde. Chodorkowskis 79-jährige Mutter Marina sagte dagegen der Nachrichtenagentur Itar-Tass, sie sei zwar eine Weile in Deutschland behandelt worden, befinde sich jetzt aber in der Moskauer Region.
Eigentlich war Chodorkowskis Entlassung aus dem Gefangenenlager in der Stadt Segescha in der Region Karelien erst für August 2014 vorgesehen. Doch Putin verkürzte seine zehnjährige Haft am Freitag kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi per Dekret "aus humanitären Gründen".
Wiedersehen mit der Familie am Samstag
Nun ist die große Frage, was als nächstes passiert. Bleibt Chodorkowski in Deutschland? Oder geht er in die Schweiz? Oder doch nach London? Genscher weiß es nicht, wie er am Freitagabend sagte. Chodorkowski wolle sich jetzt nach zehn Jahren Haft ein paar Tage Ruhe gönnen und werde sich sicher dann äußern. "Ich glaube, dass er jetzt erst mal durchatmen wird", sagte der frühere Außen- und Innenminister.
Klar war zunächst nur, dass die Eltern des Kreml-Kritikers nach Berlin kommen. Ihre Schwiegertochter Inna hält sich derzeit in der Schweiz auf. Daher wird spekuliert, Chodorkowski könne nach einigen Tagen Berlin-Aufenthalt in die Schweiz weiterreisen.
"Ich kann es noch gar nicht fassen", hatte Chodorkowskis Mutter dem Staatsfernsehen zuvor gesagt, nachdem sie von den Neuigkeiten erfahren hatte. Sie sprach mit zitternder Stimme und musste nach eigenen Angaben Beruhigungsmittel nehmen, weil sie die Freilassung ihres Sohnes "wie eine Bombe" getroffen habe.
Im Hotel "Adlon", wo er zurzeit vermutet wird, hatte Chodorkowski vor zehn Jahren seinen letzten öffentlichen Auftritt. Drei Tage später wurde er verhaftet. Bei dem Treffen damals war Chodorkowski ebenfalls mit Genscher zusammengetroffen, der auch an der Veranstaltung für Menschenrechte teilgenommen hatte.
Der Kreml-Gegner ahnte damals bereits, dass Putin ihn politisch mundtot machen wollten. Zu Genscher soll er gesagt haben: "Wenn ich jetzt zurückfliege, weiß ich nicht, ob ich noch einmal wiederkomme." Jetzt, nach zehn Jahren Zuchthaus, lässt ihn der Kreml wissen, dass er ein freier Mann sei und jederzeit nach Russland zurückkommen könne. Ob Chodorkowski davon Gebrauch macht, ist noch nicht abzusehen.
Reaktionen: "Erstaunliche Würde"
In Deutschland und der Welt löste die Freilassung ein positives Echo aus. US-Außenminister John Kerry sagte, die USA hätten sich wiederholt besorgt über mutmaßliche Verstöße in Gerichtsverfahren und eine selektive Strafverfolgung in Russland gezeigt. Darin rief er zugleich dazu auf, Reformen fortzusetzen, die zu einem transparenten, unabhängigen und glaubwürdigen Justizsystem in dem Staat führten.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und das französische Außenministerium begrüßten die Freilassung als "gutes Zeichen". Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny attestierte Chodorkowski, sich während seiner zehnjährigen Haft eine "erstaunliche Würde" bewahrt zu haben.
Oppositionsführer Gregor Gysi von der Partei Die Linke erklärte, die Begnadigung sei ein "wichtiger, überfälliger und dringend notwendiger Schritt". Auseinandersetzungen, welcher Art sie auch seien, sollten nicht so geführt werden, wie es bis jetzt mit Chodorkowski geschehen sei.
Die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fordert ein dauerhaftes Bleiberecht für Chodorkowski in Deutschland. Wenn er dies wolle, sollte die Bundesregierung ihm einen Aufenthalt ermöglichen, sagte die FDP-Politikerin der "Passauer Neuen Presse". Sie schlug eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis oder politisches Asyl für Chodorkowski vor.
Politik- und Wirtschaftsexperten werteten die Begnadigung als offensichtlichen Versuch, Russlands ramponierte Menschenrechtsbilanz vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi aufzupolieren. Steinmeier sagte, der "zeitliche Zusammenhang" mit dem Großereignis im Februar sei "offenbar".
Märtyrer und Geschäftsmann
Der frühere Chef des inzwischen zerschlagenen Ölkonzerns Yukos war 2003 festgenommen und zwei Jahre später zusammen mit seinem Geschäftspartner Platon Lebedew wegen Betrugs und Steuerhinterziehung zu langjähriger Haft verurteilt worden. In einem zweiten Prozess wurde die Strafe später nochmals verlängert. Der Prozess gegen den einst reichsten Mann Russlands wurde international als politisch motiviert kritisiert, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieser Auffassung widersprach.
Vielen Beobachtern gilt Chodorkowski durch seinen Einsatz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als politischer Märtyrer, verbürgt ist aber auch sein rücksichtsloses Geschäftsgebaren an der Spitze des Ölkonzerns Yukos. Dies und sein zunehmendes Streben in die Politik waren ihm möglicherweise zum Verhängnis geworden.
Im Jahr 2003 forderte der aufstrebende Geschäftsmann bei einem Treffen führender Oligarchen im Kreml, der Korruption im Präsidentenumfeld ein Ende zu setzen. Von Putin ist die Antwort überliefert: "Herr Chodorkowski, sind Sie sicher, dass Ihre Steuerangelegenheiten in Ordnung sind?" Wenige Monate später wurden Chodorkowski und Lebedew festgenommen.
Quelle: ntv.de, vpe/ppo/dpa/AFP