Wird mit Klitschko alles gut? "Das System muss sich ändern!"
14.12.2013, 14:25 Uhr
Seit mehr als drei Wochen treibt es die ukrainische Zivilgesellschaft auf die Straßen - mit kreativen Protestmethoden.
(Foto: REUTERS)
Seit Wochen gehen die Ukrainer gegen die Janukowitsch-Regierung auf die Straße. Maria Davydchyk von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik ist im Interview mit n-tv.de überzeugt: Nicht die Oppositionsparteien sind die Triebfeder der Proteste, der Showdown findet zwischen der empörten Zivilgesellschaft und den etablierten Eliten statt.
n-tv.de: Frau Davydchyk, wo müssen wir ansetzen, um die Motivation hinter den seit Wochen andauernden Demonstrationen in der Ukraine zu verstehen?
Maria Davydchyk: Was wir heute in Kiew sehen, ist eine massive Reaktion auf eine ganze Reihe von Problemen. Das fängt bei der prekären Situation der ukrainischen Wirtschaft an und hört bei den herrschenden Machtstrukturen - und der Forderung nach deren Auflösung - auf. Die Volkswirtschaft stagniert seit 2012, die Staatsverschuldung ist mit bis zu 75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sehr hoch. Das bedeutet im Umkehrschluss einen kurzfristigen und erheblichen Finanzierungsbedarf von 5 bis 15 Milliarden Dollar. Auf jeden Fall also erheblich mehr als das, was die EU der Ukraine anbieten konnte. Ich würde sagen, dass Präsident Janukowitsch damit gerechnet hat, dass von dieser Seite mehr kommen würde. Als klar war, dass das nicht der Fall ist, hat er sich Russland und der Aussicht auf eine zumindest kurzfristige Linderung der Probleme zugewandt.
Wo besteht die Verbindung zwischen komplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen und den Proteststürmen auf dem Maidan?
Mit dem gescheiterten Assoziierungsabkommen ist für viele Ukrainer sowohl eine konkrete Hoffnung auf baldige Besserung als auch der Traum von langfristigen Veränderungen geplatzt. Auch wenn niemand sagen kann, ob mit dem Abkommen in zwei, drei oder fünf Jahren tatsächlich eine Verbesserung eingetreten wäre, haben sich doch viele Menschen an diesen abstrakten Strohhalm geklammert.

Maria Davydchyk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berthold-Beitz-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik - gesellschaftliche Transformation ist eines ihrer Fachgebiete.
(Foto: DGAP)
Der ideelle Wert wog also schwerer als der wirtsc haftliche Nutzen?
Das kann man so sagen. Wichtig ist dabei: Das Assoziierungsabkommen sollte nicht mit einem bereits reformierten und demokratischen Land unterzeichnet werden, sondern vielmehr als Anstoß für eine Demokratisierung und langfristige Verbesserung der Institutionen dienen. Diese Hoffnung wurde enttäuscht und das war auch der Auslöser für die heutigen Proteste.
Würde es also ausreichen, wenn die Janukowitsch-Regierung wie angekündigt nun doch das Abkommen unterschreiben würde?
Mitnichten. Auch wenn sich die Proteste am Anfang noch auf unmittelbar greifbare Themen herunterbrechen ließen, so geht es heute um einiges mehr: Diese Regierung hat zwar in den vergangenen Jahren viel versprochen, davon aber nichts geliefert - entsprechend groß ist die Enttäuschung. Die heutige Regierung kann und will in ihrer jetzigen Konstellation überhaupt keine Reformen anstrengen, um sich aus eigenen Kräften aus der wirtschaftlichen Zwangslage zu befreien.
Wäre das unter einer neuen Regierung anders?
Das ist die riesige Herausforderung: Das System muss sich ändern, sonst kann es keine tiefgreifenden Veränderungen geben. Das System ist ein oligarchisches, es besteht eine wahnsinnig enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik. Die Ukrainer sind enttäuscht, dass weder die Regierung noch das Parlament noch die Justiz eigene Meinungen vertreten und Gesetze verabschieden, die dem Wohle des Volkes dienen. Deshalb kommt es nun zum Showdown zwischen der sich entwickelnden Zivilgesellschaft und den Eliten, die ihre Macht sichern wollen.
Kann man schon sagen, in welche Richtung sich das Ganze weiterentwickeln wird? Und ist unter diesen Voraussetzungen Vitali Klitschko tatsächlich der Heilsbringer, als der er im Westen gesehen wird?
Klitschko ist mit seiner "Udar"-Partei ein Faktor, den man berücksichtigen muss - auch wenn es aus unserer Perspektive schwierig erscheint, ihn als vollwertigen Politiker zu bezeichnen. Er hat wenig Erfahrung, was sich allerdings auch als Stärke entpuppen könnte - weil er vom bestehenden System eben noch nicht korrumpiert worden ist. Dazu kommt, dass wir bei ihm im Gegensatz zu fast allen anderen etablierten Politikern wissen, wie er zu seinem Reichtum gekommen ist - und er handelt, soweit wir das einschätzen können, transparent. Das ist ein Novum in der ukrainischen Politik.
Mit Klitschko als Präsident wird also alles gut?
So einfach ist das natürlich nicht. Wohin es führen kann, nur auf eine Figur zu setzen, hat man nach der Orangenen Revolution 2004 am Beispiel Timoschenkos gesehen. Ein Personenkult ist für die Interessen der Ukraine ganz einfach nicht zielführend. Es geht vielmehr darum, institutionelle Veränderungen in der Tiefe herbeizuführen und die Zivilgesellschaft weiter aufzubauen, damit diese Gesellschaft von unten die Eliten zu Reformen zwingen kann.
Ist das ein Ziel, das die Ukraine von alleine erreichen kann, oder braucht es dazu Hilfe von außen?
Ich bin überzeugt, dass dieser Prozess langfristig nur erfolgreich sein kann, wenn er von innen heraus vollzogen wird. Das zeigen die Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre, in denen trotz ausländischer Unterstützung der Transformationsprozess nicht abgeschlossen werden konnte. Natürlich ist eine gewisse Unterstützung erwünscht. Aber dabei sollte der Westen den Fokus auf kleinteilige Projekte richten, die den Menschen direkt zugutekommen. Vorstellbar wäre zum Beispiel, mit technischem Know-how ukrainische Produkte auch für andere Märkte konkurrenzfähig zu machen, quasi Hilfe zur Selbsthilfe. Das würde die Bindung an Europa stärken, was ja auch im Sinne der EU wäre.
Stichwort EU-Bindung: Immer wieder wird kolportiert, dass ein großer Teil der Menschen in der östlichen Ukraine gar nicht daran interessiert zu sein scheint und vielmehr die Nähe zu Russland sucht - ganz im Gegensatz zu den Westukrainern. Wie schwer wirkt sich dieses Fehlen einer gemeinsamen Identität auf die jetzige Situation aus?
Sicherlich haben sich aufgrund der sprachlichen Entwicklung (Ukrainisch im Westen, Russisch im Osten, Anm. d. Red.) und vor allem auch wegen der historisch-kulturellen Unterschiede verschiedene Gesellschaftsstrukturen entwickelt. Aber: Die wirtschaftliche Schwäche in Verbindung mit der grassierenden Korruption ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, sie zu überwinden wäre der richtige Weg zu einer gemeinsamen Lösung. Auch die anderen Reibungspunkte wie mangelnde Rechtssicherheit und eine Regierung, die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht ist, betreffen alle Ukrainer. Es ist also zu einfach, den Sachverhalt auf ein Ost-West-Problem zu reduzieren - vielmehr ist diese Spaltung ein Konstrukt, das von den wahren Problemen ablenken soll.
In Wahrheit ist der Graben zwischen Ost und West also nur so tief, weil ihn die Eliten gezogen haben?
Im Kern stimmt die Aussage, aber natürlich gibt es auch hier weder schwarz noch weiß. Fakt ist: Die Proteste finden im Westen mehr Anklang, im Osten weniger. In Donezk und Charkiw (im Osten der Ukraine, Anm. d. Red.) finden sogar Pro-Janukowitsch-Demonstrationen statt, das dürfen wir nicht verschweigen. Allerdings gehen auch hier Leute für die europäische Idee auf die Straße. Und ich muss noch einmal betonen, dass die Aktionen eben nicht von Parteienseite aus initiiert werden, sondern von der Zivilgesellschaft - was bedeutet, dass sich auch in diesen Regionen ein politisches Bewusstsein entwickelt. Viele Menschen haben dort verstanden, dass mit Russland keine langfristige Modernisierung möglich ist. Schon alleine deswegen, weil Russland selbst einen ganzen Sack voll hausgemachter Probleme hat.
Der entscheidende Faktor scheint also die sich entwickelnde Zivilgesellschaft zu sein. Nun hat die Regierung überraschend angekündigt, das Assoziierungsabkommen doch noch "bald" zu unterzeichnen. Wird das die Proteste überhaupt noch beeinflussen?
Wie gesagt, es geht mittlerweile um viel mehr als nur das Abkommen. Die Janukowitsch-Regierung hat das Vertrauen der Bevölkerung verloren, die Menschen sind enttäuscht und die Politikverdrossenheit ist enorm hoch. Die Leute wollen, dass jetzt endlich die nötigen Reformen auf den Weg gebracht werden. Und sie werden nicht ruhen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Die Frage ist nur, wie geht es dann weiter? Beispiel Klitschko: Wird er sich im Erfolgsfall auch weiterhin für die Belange des Volkes einsetzen oder dem mächtigen Sog der Oligarchen erliegen? Das steht alles noch in den Sternen.
Mit Maria Davydchyk sprach Julian Vetten
Quelle: ntv.de