Politik

Zweimal 90 Minuten pro Tag Demjanjuk prozessfähig

Demjanjuk nach dem ersten Prozesstag.

Demjanjuk nach dem ersten Prozesstag.

(Foto: dpa)

Während die Anwälte des mutmaßlichen KZ-Wachmanns Demjanjuk ihren Mandanten selbst als Opfer der Nazis darstellen, warten Angehörige der Ermordeten und Überlebende auf die Wahrheit und ein Urteil.

Der gebürtige Ukrainer kommt per Krankentransport.

Der gebürtige Ukrainer kommt per Krankentransport.

(Foto: dpa)

Nach monatelangem Tauziehen um seine Auslieferung muss sich der mutmaßliche NS-Verbrecher John Demjanjuk in München wegen Mithilfe beim Mord an 27.900 Juden verantworten. Der 89-jährige gebürtige Ukrainer soll als Kriegsgefangener mit den Nazis kollaboriert und sich am Massenmord im Vernichtungslager Sobibor beteiligt haben. Es dürfte einer der letzten NS-Verbrecherprozesse weltweit sein. Bis Mai 2010 sind vorerst 35 Verhandlungstage angesetzt und 23 Zeugen benannt worden.

Drei Gutachter bescheinigten dem Greis, der einmal im Rollstuhl und einmal auf einer Trage in den Gerichtssaal geschoben wurde, erneut eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit. Zweimal 90 Minuten am Tag seien möglich.

Dass Demjanjuk während der gesamten Verhandlung die Augen geschlossen hielt, bedeute nicht, dass er dem Prozess nicht folgen könne. Vielmehr sei er wahrscheinlich auf die Übersetzung in seine Muttersprache Ukrainisch konzentriert. "Er war voll ansprechbar, voll kommunikationsfähig", sagte der Mediziner Albrecht Stein nach einer Unterbrechung, in der Demjanjuk eine Schmerzspritze bekam. Anzeichen von Demenz gebe es nicht, ergänzte eine psychiatrische Gutachterin.

Täter oder Opfer - oder beides

Die Anwälte stellten Demjanjuk zum Auftakt als Opfer dar, genauso einzustufen wie Juden, die von den Nazis zum Helfen gezwungen wurden, wie etwa der im Prozess als Nebenkläger auftretende Sobibor- Überlebende Thomas Blatt. "Indem sie für die Deutschen tätig wurden, haben sie nur ihr eigenes Leben retten wollen", sagte Verteidiger Ulrich Busch vor dem Landgericht München II über die gefürchteten Trawniki und erntete heftige Kritik von Opferangehörigen und KZ-Überlebenden.

Anwälte stellen Befangenheitsantrag

Der Dienstausweises von John Demjanjuk, ein wichtiges Dokument für die Anklage.

Der Dienstausweises von John Demjanjuk, ein wichtiges Dokument für die Anklage.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Busch stellte einen Befangenheitsantrag gegen Gericht und Anklage. Demjanjuk könne kein Vertrauen in die Justiz haben, da deutsche SS-Männer in früheren Prozessen freigesprochen worden seien. Andere Trawniki, denen Mordtaten nachweisbar seien, seien frei. Sowohl das Gericht als auch die Staatsanwälte hätten Demjanjuk "objektiv sachwillkürlich" vor Gericht gebracht, sagte Busch. Er begründete dies damit, dass Gericht und Staatsanwaltschaft aus den vorliegenden Akten wissen müssten, dass Demjanjuks Vorgesetzte allesamt freigesprochen wurden. "Man fragt sich, wie das sein kann? Setzt nicht Beihilfe eine Haupttat voraus?", fragte Busch. Der Vorsitzende Richter Ralph Alt kündigte an, über den Befangenheitsantrag zu gegebener Zeit zu entscheiden.

Demjanjuk schweigt

Demjanjuk soll von 1943 als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen der SS geholfen haben, die großenteils aus den Niederlanden stammenden Nazi-Verfolgten in die Gaskammern zu treiben. Hauptbeweismittel ist ein SS-Dienstausweis mit der Nummer 1393. "Abkommandiert am 27.3.43 Sobibor" ist darauf notiert. Die Verteidigung bezweifelt die Echtheit des Dokuments. Da Demjanjuk bisher zu den Vorwürfen schweigt, wird ein langwieriger Indizienprozess erwartet. Staatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch betonte kurz vor Prozessbeginn, er halte die Beweismittel für ausreichend.

35 Nebenkläger

Der KZ-Überlebende und Nebenkläger Robert Cohen zeigt im Landgericht München seine KZ-Tätowierung aus Auschwitz-Birkenau. Cohen verlor Angehörige in Sobibor.

Der KZ-Überlebende und Nebenkläger Robert Cohen zeigt im Landgericht München seine KZ-Tätowierung aus Auschwitz-Birkenau. Cohen verlor Angehörige in Sobibor.

(Foto: dpa)

Am Prozess beteiligen sich insgesamt rund 35 Nebenkläger, die ihre Angehörigen in Sobibor verloren haben; gut 20 waren zum Auftakt da. Auch der Direktor des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem, Efraim Zuroff, reiste an, ebenso die Journalistin Beate Klarsfeld und ihr Mann, der Anwalt Serge Klarsfeld, die seit Jahrzehnten gegen die Vertuschung von Naziverbrechen kämpfen. Der Prozess hatte wegen chaotischer Zustände beim Einlassen der Öffentlichkeit mit einstündiger Verspätung begonnen.

Keiner der noch lebenden Zeugen kann sich konkret an Handlungen Demjanjuks bei der Ermordung von Juden erinnern. Doch die Anklage folgert, dass in Sobibor stets das gesamte Personal am Morden beteiligt war, wenn die Gefangenentransporte eintrafen. Denn das Lager diente allein der Vernichtung von Menschen. Bis zu 150 sowjetische Kriegsgefangene und 30 SS-Leute waren im Einsatz.

Ausbildung zum Wachmann

Demjanjuk war 1942 als Sowjetsoldat in Gefangenschaft geraten und entschied sich laut Anklage zur Kooperation mit den Nazis. Im SS-Ausbildungslager Trawniki soll er zum Wachmann geschult und in Sobibor sowie später im KZ Flossenbürg eingesetzt worden sein. Einer der Hauptzeugen ist ein anderer Trawniki, der mit Demjanjuk in Flossenbürg war.

Von Oberbayern in die USA

Nach dem Krieg lebte Demjanjuk unter anderem in Feldafing in Oberbayern, bevor er in den 1950er Jahren nach Cleveland (US-Bundesstaat Ohio) auswanderte und US-Bürger wurde. Als sich die Vorwürfe gegen ihn verdichteten, entzogen ihm die USA die Staatsbürgerschaft. Im Mai wurde Demjanjuk nach Deutschland abgeschoben.

Bereits 1988 war Demjanjuk in Israel als "Iwan der Schreckliche" aus dem Vernichtungslager Treblinka zum Tode verurteilt worden. 1993 wurde das Urteil aber aufgehoben, weil Zweifel an seiner Identität auftauchten.

Sohn von Unschuld überzeugt

Der Sohn Demjanjuks ist von der Unschuld seines Vaters überzeugt. "Wir wissen in unseren Herzen, dass mein Vater niemals irgendjemandem ein Leid zugefügt hat. Und wir wissen auf Grundlage des vorliegenden Materials, dass es absolut keinen Beweis dafür gibt, dass er jemandem Leid zugefügt hat", sagte John Demjanjuk junior auf Nachfrage. Der nun in Deutschland angeklagte Fall sei bereits vom Staat Israel und vom höchsten israelischen Gericht verworfen worden - und dies nicht aus rein formellen Gründen.

Zugleich zeigte sich der Sohn des Angeklagten empört darüber, dass die deutsche Regierung den Fall eines ukrainischen Kriegsgefangenen nun so forciere, während viele deutsche KZ-Wärter nie verurteilt wurden. "Einen Ukrainer zu verurteilen hilft ihnen, die Schuld wegzuschieben", sagte Demjanjuk jr. und drohte der Bundesregierung mit einer Klage.

Quelle: ntv.de, dpa/AFP

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