Autotalk bei "Hart aber fair" "Der Ernst der Situation ist vielen überhaupt nicht bewusst"
29.10.2024, 04:43 Uhr Artikel anhören
In China seien Autokäufer jünger und technikaffiner als in Deutschland, sagt Yogeshwar.
(Foto: WDR/Dirk Borm)
Es sieht nicht gut aus für die Autoindustrie in Deutschland. Einst für Spitzenprodukte bekannt, haben die deutschen Autobauer offenbar eine wichtige Entwicklung verpennt. Doch noch ist es nicht zu spät, meinen die Gäste bei "Hart aber fair" im Ersten.
Der VW-Betriebsrat hat es angekündigt: VW will drei Werke schließen. Mehrere Zehntausend Jobs stehen auf dem Spiel. Gehälter sollen gekürzt werden. Das ist die Ausgangslage am Montagabend. Die Redaktion der ARD-Talkshow "Hart aber fair" wollte sich ohnehin mit der Autoindustrie in Deutschland beschäftigen. Fährt der wichtigste Wirtschaftszweig Deutschland gerade mit Karacho gegen die Wand? Das fragt Moderator Louis Klamroth seine Gäste.
Fehler wurden gemacht. Offenbar auf allen Seiten. Hildegard Müller ist die Präsidentin des Bundes der Automobilindustrie. Sie sieht für die schlechte Situation der deutschen Autoindustrie vor allem zwei Gründe: "Das Eine ist die Transformation, die natürlich auch Arbeitsplätze kostet, weil in der Fertigungstiefe, die ein Verbrennungsmotor in der Vergangenheit hatte, sich auch die Berufsbilder verändern." Laut einer Studie des Verbandes, die am heutigen Dienstag veröffentlicht werden soll, stehen etwa 190.000 Arbeitsplätze zur Disposition. Die Hauptschuld an der schlechten Situation der Autoindustrie trage jedoch die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland. "Das ist kein VW-Thema, das ist auch kein Auto-Thema. Es ist eine Krise des Standorts, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa." Im Laufe der Sendung nennt sie weitere Probleme: hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie. "Wenn wir diese Fragen nicht in den Griff kriegen, wird die Autoindustrie ihrer Wege gehen."
Andreas Audretsch sieht das natürlich anders. Der stellvertretende Grünen-Fraktionschef soll demnächst den Wahlkampf seiner Partei managen. Er sei vor Kurzem im VW-Werk in Emden gewesen, erzählt er. Er habe die Menschen gesehen, die ihren Job lieben, stolz auf die Produktion seien und ihren Job gut machten. "Dass diese Menschen jetzt in der Situation sind, in der sie um ihre Jobs bangen müssen, ist aus meiner Sicht inakzeptabel, weil man nicht auf dem Rücken dieser Menschen das austragen darf, was an Managementfehlern in den letzten Jahren passiert ist", sagt Audretsch. Er fordert eine Job- und Standortgarantie vom VW-Vorstand.
Auch Frank Schäffler von der FDP sieht Fehler, aber nicht nur beim VW-Management. Klar, die einseitige Orientierung auf die Elektromobilität sei falsch gewesen. Auch Schäffler fordert natürlich Energieoffenheit, wie alle Liberalen, ist zudem noch immer der Meinung, die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke sei ein Fehler gewesen, was er auch in der Sendung anbringt. Aber er sagt auch: "Dass die Gewerkschaften sieben Prozent Lohnerhöhung fordern, passt vielleicht auch nicht in die aktuelle Lage hinein." Auch die Eigentümer von VW hätten Fehler gemacht, vor allem das Land Niedersachsen. Das ist an dem Autoriesen beteiligt und habe mit der Berufung von Kultusministerin Julia Willie in den Aufsichtsrat eine Frau gewählt, die von der Autoindustrie keine Ahnung habe. Tatsächlich lässt sich im Lebenslauf der jungen Grünen-Politikerin nichts finden, was auf eine intensive Beschäftigung mit dieser Wirtschaftssparte hindeutet. Andreas Audretsch widerspricht denn auch nicht.
Man habe die Transformation sehen können, kommt Wissenschaftsjournalist Rangar Yogeshwar schließlich zum eigentlichen Thema zurück. In China sei jedes zweite angemeldete Auto ein Elektroauto. Dort hatte es allerdings vorher weniger Fahrzeuge mit Verbrenner-Motoren gegeben, und die chinesischen Autofahrer sind im Durchschnitt deutlich jünger und technikaffiner als Autokäufer in Deutschland. In Deutschland habe man zu lange an der Verbrenner-Technik festgehalten, sagt Yogeshwar. "Ich glaube, der Ernst der Situation ist vielen überhaupt nicht bewusst", sagt er: "Wir haben eine Situation, bei der der Know-how-Vorsprung in China in Bezug auf E-Mobilität enorm ist."
Innovationsgipfel bei Kanzler Scholz
Am heutigen Dienstag hat Bundeskanzler Olaf Scholz die großen Wirtschaftsbosse zu einem Innovationsgipfel ins Kanzleramt eingeladen. Was genau dort besprochen werden soll, weiß zumindest Andreas Audretsch nicht. Diese Gipfel in Krisenzeiten sind schon seit Angela Merkel Chefsache. Hildegard Müller hat auch keine Ahnung. Sie ist nicht mal eingeladen.
"Ich erwarte, dass wir unsere Standortbedingungen in Deutschland verbessern", fordert Schäffler. Doch auch die Europäische Union müsse sich bewegen und von ihrem Vorhaben abgehen, ab 2035 Neuzulassungen von Autos mit Verbrenner-Motor zu verbieten. Das sei "zentralistische Planwirtschaft", sagt Schäffler, und "welche Technik sich langfristig durchsetzt, weiß Ursula von der Leyen nicht".
Hildegard Müller erwartet vor allem, dass sich die Ampelkoalition einigt. "Man ist gewählt, man hat einen Wählerauftrag erhalten. Das ist eine außerordentlich schwere Krise des Standorts, die wir hier haben. Und deshalb muss die Bundesregierung sich zusammensetzen und gemeinsame Vorschläge machen, die vor allem in der Perspektive auch realistisch auf die Fakten blicken."
Audretsch setzt lieber weiter auf die Industrie. Während sich China auf den Bau von Elektroautos konzentriert habe, sei in Deutschland über viele Jahre in Abschalteinrichtungen investiert worden, aber nicht in Zukunftsindustrien. Dann sei irgendwann der Fehler erkannt worden, man habe auf Elektromobilität gesetzt, denn die habe sich global durchgesetzt. "Und was sehen wir jetzt? Unter der Überschrift der Technologieoffenheit wird versucht, diesen Prozess wieder zu zerstören." Man dürfe jetzt aber nicht mehr rückwärtsgehen. "Insofern ist die Frage, ob wir uns trauen, endlich im Diskurs in Deutschland den Punkt zu kriegen, die neuen Technologien zu umarmen, sie gut zu finden."
Quelle: ntv.de