Politik

Andere Maßnahmen wichtiger Die Impfpflicht-Debatte verdeckt Hilflosigkeit

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Die Stimmen, die eine allgemeine Corona-Impfpflicht in Deutschland fordern, mehren sich. Ministerpräsidenten sind darunter, Fachpolitiker und Experten. Doch die Debatte verdeckt, dass andere Maßnahmen viel dringlicher wären. Denn für die vierte Welle käme eine Impfpflicht zu spät.

"Ich glaube, dass wir am Ende um eine allgemeine Impfpflicht nicht herumkommen werden. Sonst wird das eine Endlosschleife mit diesem Mist-Corona", sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am vergangenen Freitag. Es war eine der ersten Stimmen aus der ersten Reihe der Politik, die eine solche Impfpflicht forderten - kurz nach dem Bund-Länder-Gipfel und wohl auch unter dem Eindruck der Entscheidung Österreichs, eine Impfpflicht zum kommenden Februar einzuführen.

Erst am Donnerstag hatten Söder und die anderen Ministerpräsidenten auf ihrem Gipfel die Bundesregierung gebeten, eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen zu beschließen, für Pflegepersonal in Kliniken und Heimen. Am Tag darauf legte der CSU-Chef schon wieder nach: Er äußerte Zweifel, dass eine solche Teilimpfpflicht ausreiche werde.

Söder erhielt für seine Forderung nicht nur Unterstützung aus der eigenen Partei, sondern auch von seinen Länderkollegen. Daniel Günther aus Schleswig-Holstein, Volker Bouffier aus Hessen, Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt - allesamt von der CDU - sowie der Grüne Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg sprachen sich unisono für eine Impfpflicht für alle Bürgerinnen und Bürger aus. Auch andere Politiker äußerten sich entsprechend, vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach bis zur CDU-Bundestagsabgeordneten Serap Güler.

Den Regierungschefs der Länder, zumal jenen der CDU, können solche Forderungen allerdings auch leicht von den Lippen gehen. Denn zuständig für eine allgemeine und bundesweite Impfpflicht wäre die Bundesregierung. Von der gibt es derzeit im Prinzip zwei: eine geschäftsführende und eine, die sich gerade in den Koalitionsverhandlungen der Ampel-Parteien bildet.

Die Ampel ist unentschlossen

Die scheidende Bundesregierung aus Union und SPD bleibt bei ihrer Ablehnung einer Pflicht zum Piks. Die Diskussion sei verständlich, aber die amtierende Bundesregierung werde ihre Haltung nicht mehr ändern, stellte Regierungssprecher Steffen Seibert klar. Die neue Regierung wiederum ist noch nicht im Amt, sie hat noch nicht einmal ihren Koalitionsvertrag fertig ausgehandelt. Und im Infektionsschutzgesetz, das SPD, Grüne und FDP gerade aktualisiert und das Bundestag und -rat beschlossen haben, ist von einer Impfpflicht keine Rede.

Zwar gibt es inzwischen eine Einigung der Ampel auf eine Regelung für das Pflegepersonal. Ob die drei Parteien aber Maßnahmen für alle Bürgerinnen und Bürger befürworten werden, ist noch unklar. Unionsfraktionsvize Thorsten Frei forderte SPD, Grüne und FDP daher auf, sich zu einer allgemeinen Impfpflicht zu äußern. Die Debatte habe seit einigen Tagen enorm an Fahrt aufgenommen, sagte Frei im "Frühstart" von ntv. "Deswegen werden sich auch die zukünftigen Regierungspartner dazu verhalten müssen." Er habe bislang den Eindruck, dass die drei Parteien sehr unterschiedliche Positionen hätten.

Dass die alte Bundesregierung das heiße Eisen nicht mehr anpacken will und die künftige zaudert - das dürfte den Ministerpräsidenten der Länder, vor allem jenen der CDU, klar sein. Ebenso die Tatsache, dass eine Einführung der Impfpflicht im Kampf gegen die vierte Welle ohnehin nichts mehr bringen würde, weil die Effekte viel zu spät spürbar wären. "Sie löst unser akutes aktuelles Problem nicht", sagte etwa der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn von der CDU. Jenes "akute aktuelle Problem" sind die rasant steigenden Fallzahlen und die alarmierenden Berichte von den Intensivstationen.

Einige Bundesländer haben angesichts dieser Entwicklung bereits nachgeschärft, etwa Bayern und Sachsen. Sie setzen seit dieser Woche auf weitflächige 2G-Regelungen. Doch reicht das noch aus? Experten zweifeln. "Wir haben die Lage nicht mehr unter Kontrolle", sagte der Epidemiologe Timo Ulrichs am Dienstag im Corona-Spezial von ntv. Kontaktbeschränkungen für Geimpfte und Ungeimpfte hätte es früher gebraucht. Jetzt helfe nur noch der Lockdown - sofort und flächendeckend für Ungeimpfte, so Ulrichs. Schneller als eine Impfpflicht würden Kontaktbeschränkungen, auch für Geimpfte, helfen.

Andere Maßnahmen sind jetzt wichtiger

Im Dezember wollen Bund und Länder erneut zusammensitzen, um die vergangene Woche beschlossenen Maßnahmen auszuwerten. Gut möglich, dass dann auch bundesweit nachgeschärft wird - wieder einmal zu spät. Und gut möglich, dass dann eine allgemeine Impfpflicht zumindest auf dem Tisch liegt. Wobei rechtliche Fragen genauso geklärt werden müssen wie die Durchsetzbarkeit und Kontrolle.

Und nicht zuletzt gibt es gewichtige Stimmen gegen diese Maßnahme. Nicht nur aus den Ampel-Parteien, sondern etwa auch von Friedrich Merz, der gute Chancen hat, nächster CDU-Chef zu werden. "Die allgemeine Impfpflicht würde jetzt Wochen oder Monate dauern, bis sie wirkt", sagte er in der ARD. Merz sprach von einer "Scheindebatte", forderte stattdessen konsequente und deutschlandweite 2G-Regeln und brachte zudem verfassungsrechtliche Bedenken ins Spiel - auch wenn etliche Staatsrechtler eine Impfpflicht für vertretbar halten.

Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht wäre zudem ein langer Prozess, der Monate dauern würde, auch weil bisher Ungeimpften die Möglichkeit gegeben werden müsste, sich noch die Spritzen abzuholen. Weil jedoch die Zeit drängt, sollten derzeit andere Maßnahmen im Vordergrund stehen. Die Rufe nach einer Impfpflicht für alle wirken da eher wie Zeichen der Hilflosigkeit - und wie die Verschleierung des eigenen Versagens angesichts von Warnungen seit dem Sommer, die Bund und Länder im Bundestags-Wahlkampf ignoriert haben. Schnelle Hilfe versprechen nur noch einschneidende Maßnahmen, bis hin zum Lockdown auch für Geimpfte - und für die wiederum wären die Länder zuständig, nicht der Bund.

Quelle: ntv.de

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