Reisners Blick auf die Front "Die Russen wollen ein großes Stück ukrainisches Gelände herausbrechen"
10.02.2025, 20:04 Uhr Artikel anhören
Noch recht frisch ist die Meldung von gestern, dass mutmaßlich russische Drohnen über dem norddeutschen Luftwaffenstützpunkt Schwesing in Schleswig-Holstein gesichtet wurden. Das muss im Januar mehrfach passiert sein. Abgeschossen wurden die Drohnen nicht, das wäre nach derzeitiger Gesetzeslage auch nicht erlaubt. Oberst Markus Reisner erklärt ntv.de, was die fremden Flugkörper so gefährlich macht - für Deutschland und für die Ukraine.
ntv.de: Herr Reisner, schauen wir heute ausnahmsweise zuerst auf Deutschland. Die vermutlich russischen Drohnen über der Luftwaffenbasis Schwesing konnten dort offenbar ungestört agieren. Die Bundeswehr hat sie nicht erfolgreich bekämpft, auch nicht mit Störsendern vom Kurs abgebracht oder zur Landung gezwungen. Muss uns das Sorgen bereiten?
Markus Reisner: Es steht mir nicht zu, über die Fähigkeiten von NATO-Streitkräften zu urteilen, aber fassen wir zusammen: Ein Gegner setzt auf deutschem Hoheitsgebiet Maßnahmen zum möglichen Schaden Deutschlands um und die Bundeswehr tut sich schwer, dieser Aktionen Herr zu werden. Das bestürzt auf den ersten Blick, kann aber verschiedene Gründe haben: Möglicherweise fehlen der Bundeswehr der Rechtsrahmen und die notwendigen Wirkmittel, um die Drohnen am Überflug zu hindern. Vielleicht hat man auch kein gutes Lagebild, auch um rechtzeitig festzustellen, wo die Drohnen herkamen. Man wurde immer wieder überrascht. Ja, das sollte der deutschen Bevölkerung Sorgen bereiten. Jeden Tag leisten aber in der Bundeswehr viele Frauen und Männer mit wenigen Ressourcen und unklarem Rechtsrahmen Unglaubliches. Hier sollte Deutschland mit notwendiger Unterstützung ansetzen.
Schwäche beim Lagebild und den Mitteln zur Bekämpfung: War das ein punktuelles Problem am Himmel über Norddeutschland oder besteht das grundsätzlich? Immerhin werden dort Ukrainer an Patriot-Systemen ausgebildet.
Nötig sind an erster Stelle ein umfassendes Lagebild und darauf aufbauend eine Risikoanalyse. Dann kann zum Beispiel konkret entschieden werden: An all jenen Basen, wo Ukrainer Fähigkeiten an Westwaffen trainieren, bringe ich Drohnenabwehrsysteme zum Einsatz, um Spionage zu verhindern. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Wie viele derartige Systeme sind denn eigentlich verfügbar? Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa. Bereits auf unterster Ebene sind zu wenig Systeme vorhanden, um trotz Lagebild und Risikoanalyse alle etwaig betroffenen Orte wirksam zu schützen. Das gilt übrigens auch für Großveranstaltungen - die nächste Herausforderung. Schon seit Jahren wird gewarnt: Terroristen könnten Drohnen in eine Menschenmenge stürzen lassen.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Also ein Anlass zur Sorge: Die Bundeswehr konnte die Spionageattacke nur feststellen aber sie nicht bekämpfen. Eine zweite Sorge ist das, was die Russen herausfinden wollten. Was lässt sich in Schwesing ausspionieren?
Drohnen können zum Beispiel Handy-Signaturen aufnehmen. Das ist eine Spähmaßnahme im sogenannten elektromagnetischen Feld. Wenn die ukrainischen Soldaten, die an den Patriot-Systemen ausgebildet werden, dort in Schwesing telefonieren, lässt sich mittels der über ihnen fliegenden Drohne die Signatur des Anschlusses detektieren. Die Russen müssen dann nur den Signaturen der verwendeten Handynummern zurück in die Ukraine folgen und sie wissen, wo die ausgebildeten Soldaten später eingesetzt werden. Dort befinden sich dann ziemlich sicher Patriot-Batterien.
Was ist über die Herkunft der Drohnen bekannt?
Noch gibt es unterschiedliche Vermutungen. Eine richtet sich auf Schiffe, vielleicht sogar in internationalen Gewässern. Von dort aus könnten die Drohnen Richtung Küste fliegen, aufklären und zurückkehren. Es gilt: Je kleiner das Luftfahrzeug, desto schwieriger ist es, sie aufzuspüren.
"Vermutungen" heißt auch: Wir wissen es nicht, müssten es aber wissen?
Deutschland hat hier unter Umständen noch kein umfassendes Lagebild oder man hält sich zurück, um Ermittlungsergebnisse nicht zu gefährden. Man sollte aber tunlichst danach trachten, solche Vorgänge über dem eigenen Hoheitsgebiet zu verhindern. Die Häufung der Vorfälle zeigt, wie schwierig der Umgang mit hybrider Kriegsführung ist. In dieser Grauzone tut sich der Staat sehr schwer, die auch rechtlich richtigen Maßnahmen zu treffen. Ein weiteres Problem ist die Ausdehnung des Raumes. Die "Financial Times" berichtete im vergangenen Jahr, dass die NATO nur in der Lage sei, fünf Prozent ihres Luftraums zu schützen. Diese Schwäche ist das Ergebnis der Friedensdividende nach dem Kalten Krieg. Gepaart mit dem Versäumnis, seit Beginn der russischen Vollinvasion massiv Systeme, die man Kiew geliefert hat, nachzubeschaffen. Das eigene Territorium flächendeckend zu schützen gelingt aber selbst Russland und der Ukraine nicht, beide Seiten greifen sich immer wieder erfolgreich mit Drohnen an.
Blicken wir aufs Schlachtfeld. Im Donbass kann die Ukraine den russischen Vormarsch weiter verzögern?
Beginnen wir zunächst mit der langen Front von Kupjansk runter nach Saporischschja. Im Norden ist es den Russen gelungen, den Fluss Oskil an vermutlich drei Stellen zu überschreiten und Brückenköpfe zu errichten. Beobachter vermuten, dass diese Brückenköpfe dazu dienen sollen, zusammen mit einem zweiten Vorstoß aus dem Raum Wowschansk nördlich von Charkiw ein großes Stück ukrainisches Gelände herauszubrechen. Wir sehen hier möglicherweise, wie eine Art Zangenbewegung entsteht. Ob dies tatsächlich gelingt, ist im Moment offen.
Wie sieht es weiter südlich aus?
Bei Terny gibt es ebenfalls Brückenköpfe am dortigen Flussabschnitt, auch hier mit der Möglichkeit für weitere Vorstöße Richtung Westen, neben schweren Angriffen bei Siversk. Hier könnte sich ein neues Schwergewicht bilden. Torezk ist laut russischen Berichten gefallen. Die Ukrainer melden zwar noch immer Kämpfe in den Außenbezirken, aber die Lagekarten und Drohnenvideos beider Seiten zeigen, dass die Stadt faktisch gefallen ist.
Wie ist die Lage um Pokrowsk?
Hier geht es den Russen offenbar nicht mehr so sehr um die Umfassung der Stadt, sondern sie versuchen, südlich der Stadt in Richtung Westen vorzustoßen. Von dort ist die Grenze zur nächsten Oblast Dnipropetrowsk nicht weit. Wenn Moskaus Truppen diese erreichen, können sie einen propagandawirksamen Sieg erringen und zeigen: "Wir haben bereits in der nächsten Oblast den Fuß in der Tür!"
In Kursk, wo die russische Armee unterstützt von nordkoreanischen Streitkräften die Ukraine immer stärker vom eroberten russischen Territorium abdrängt, haben die Ukrainer nun den dritten Gegenangriff gestartet. Bringt der etwas?
Aus meiner Sicht hat sich die Situation in Kursk für die Ukrainer verschärft, weil die zentrale Versorgungslinie von Russland mit weitreichenden Drohnen angegriffen wird. Zum Gegenangriff: Südostwärts von Sudzha haben die Ukrainer mindestens zwei mechanisierte Kampfgruppen mit jeweils 10 bis 15 Panzern und Kampfschützenpanzern eingesetzt. Darunter waren auch Pionierpanzer aus deutscher Produktion. Das Ziel dieses Angriffes war es vor allem, Sudzha zu entlasten, das als ein zentraler Knotenpunkt für die ukrainische Logistik in Kursk fungiert. Die Russen sind der Stadt schon sehr nahegekommen. Diesen Druck versucht die Ukraine abzumildern. Denn Sudzha ist wichtig, wenn man den Raum Kursk halten will - auch als Faustpfand mit Blick auf Verhandlungen.
Stichwort Verhandlungen - die Russen, so haben Sie es eben beschrieben, versuchen im Donbass, ein größeres Stück ukrainisches Territorium herauszubrechen. Bei der Frage, ob sie das schaffen, wäre ja auch entscheidend, wann der Beginn von Verhandlungen zu einem Waffenstillstand realistisch wäre. Was ist da Ihr Stand?
Als Termin für den möglichen Start einer Waffenruhe kursiert der 20. April. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vergangene Woche erklärt, er sei bereit, sich mit Putin an den Verhandlungstisch zu setzen, wenn das der einzige Weg ist, um dem ukrainischen Volk Frieden zu sichern. Das hatte er zuvor immer ausgeschlossen. Eine weitere Bedingung: Die USA und Europa müssten weiter zur Ukraine stehen und dürften sie nicht im Stich lassen. Umstritten ist, ob Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Donald Trump wirklich miteinander telefoniert haben. Der Kreml bestätigt es nicht, streitet es aber auch nicht ab. Wir können aber davon ausgehen, dass es im Hintergrund Gespräche gibt zwischen Vertretern beider Seiten, um vorsichtig auszuloten, wo man sich treffen könnte. Dazu soll es einen geleakten Plan dazu geben, wie die Sicherheitsarchitektur der Ukraine künftig gestaltet sein könnte.
Was wird aus dem Inhalt berichtet?
Vor allem britische Zeitungen schreiben, Trump wolle Selenskyj von einer Waffenruhe ab dem 20. April überzeugen. Weiterführend könnte es dann sogar ein Abkommen zur Beendigung des Krieges ab dem 9. Mai geben, dem symbolträchtigen Tag des Sieges in Russland. Geplant ist offenbar auch, eine Friedenskonferenz unter Beteiligung vieler bedeutender Staaten zu organisieren. Trump wird da vor allem an Nationen wie China denken.
Und wie wären die Konditionen für Kiew?
Die Ukraine soll dauerhaft auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichten und ihre Truppen aus der russischen Provinz Kursk abziehen. Die Frontlinie würde durch ein Kontingent europäischer Staaten überwacht werden. Laut Berichten sollen die Soldaten aus Großbritannien kommen. Die Frage ist, ob das ausreicht.
Wie viel Verantwortung müssten die Europäer ansonsten übernehmen?
Die EU-Staaten sollen laut diesem geleakten Plan den Wiederaufbau der Ukraine finanzieren. Die Kosten werden auf bis zu 500 Milliarden US-Dollar geschätzt, ein enormer Aufwand. Die USA würden dafür sorgen, dass die Ukraine weiter militärisch aufgerüstet wird, bekämen aber dafür als Gegenleistung seltene Erden und Rohstoffe aus dem Land.
Europa würde davon nicht profitieren?
Laut dem Plan nicht. Man sieht hier, dass die Machtpolitik im 21. Jahrhundert zurückgekehrt ist.
Wie geht es dann politisch weiter in der Ukraine?
Laut Plan werden nach Kriegsende umgehend Neuwahlen gefordert. Aus meiner Sicht ist schon jetzt erkennbar, dass sich der ehemalige Generalstabschef General Saluschniyj, der derzeit in Großbritannien ist, in Position bringt für eine mögliche Kandidatur um das Präsidentenamt. Zudem soll Kiew anerkennen, dass die russisch besetzten Gebiete jetzt zu Russland gehören. Das ist schon starker Tobak.
Noch nicht spruchreif, aber es deutet sich hier an, dass Trump nicht sehr viel Zeit darauf verwenden möchte, noch etwas Gutes für die Ukraine rauszuhandeln, oder?
Wenn diese Bedingungen wirklich so im inneren Zirkel um Trump besprochen werden, dann will der US-Präsident diesen Konflikt offensichtlich so rasch wie möglich beenden und dazu müsste die Ukraine massive Abstriche machen. Das deckt sich mit den Aussagen von Präsident Selenskyj aus den vergangenen Tagen. Er betont, er sei bereit, zu verhandeln, wenn man ihn nicht im Stich lässt. Das ist schon fast ein Hilfeschrei.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de