Politik

Linke-Politikerin kritisiert Ankara "Die Türkei stärkt eher den IS als die Kurden"

Türkische Soldaten sichern die Grenze zu Syrien. Die Linken-Politikerin Hänsel wirft der Regierung in Ankara vor, die Kurdenfrage mit dem Syrienkonflikt zu verknüpfen - zulasten der Menschen, die Schutz suchen.

Türkische Soldaten sichern die Grenze zu Syrien. Die Linken-Politikerin Hänsel wirft der Regierung in Ankara vor, die Kurdenfrage mit dem Syrienkonflikt zu verknüpfen - zulasten der Menschen, die Schutz suchen.

(Foto: imago/Xinhua)

Nach einer Reise an die türkisch-syrische Grenze erhebt die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel schwere Vorwürfe gegen die Türkei. Während sich das Land als humanitäres Musterland darstelle, gehe es zynisch mit dem Schicksal der kurdischen Flüchtlinge um.

n-tv.de: Anfang der Woche hieß es, Hunderttausende Menschen seien aus der syrischen Stadt Kobane über die türkische Grenzstadt geflohen. Es gab allerdings auch Zweifel an dieser Zahl. Was haben Sie beobachtet?

Heike Hänsel ist entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Am vergangenen Wochenende war sie auf Einladung türkischer Parlamentarier an der syrisch-türkischen Grenze.

Heike Hänsel ist entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Am vergangenen Wochenende war sie auf Einladung türkischer Parlamentarier an der syrisch-türkischen Grenze.

(Foto: Alexander Gonschior)

Heike Hänsel: Sicher ist, dass Hunderttausende auf syrischer Seite auf der Flucht um die Stadt Kobane sind. Und die meisten davon wollten in die Türkei. Allerdings sind bei weitem nicht so viele Menschen durchgelassen worden. Ich kam am vergangenen Wochenende mitten hinein in die Auseinandersetzung zwischen türkischem Militär und der kurdischen Dorfbevölkerung auf türkischer Seite. Die wollte den Syrern helfen, das wurde aber nicht zugelassen. Ich habe gesehen, wie die Grenze blockiert wurde und auch Zelte zerstört und Hilfsgüter konfisziert wurden.

Wie kommen dann die Zahlen zustande, wonach mindestens 130.000 oder sogar mehr als 150.000 Syrer innerhalb weniger Tage in die Türkei geflüchtet seien?

Als die Offensive des Islamischen Staats auf die Grenzstadt Kobane begann, sind mehrere Zehntausend über die Grenze gegangen, das ist ja nur ein Stacheldrahtzaun. Dann wurde von türkischer Seite her abgeriegelt. Ich war in Suruc und kann nicht bestätigen, dass dort 130.000 Syrer sein sollen. Die Zahl hat das UNHCR ja recht schnell veröffentlicht. Auf Nachfrage teilte die Organisation mit, die Zahlen habe sie von der türkischen Regierung übernommen.

Andererseits hilft die Türkei ja durchaus in großem Stil. Hunderttausende Syrer sind bereits in der Türkei aufgenommen worden.

Es ist widersprüchlich. Die Grenze ist seit langem dicht für humanitäre Hilfe für die kurdische Bevölkerung in Syrien. Die Türkei öffnet die Grenze nicht offiziell, hat aber partiell Menschen rübergelassen, auch auf Druck aus dem Ausland.

Was werfen Sie der türkischen Regierung vor?

Problematisch ist, dass die Türkei den Syrienkonflikt jetzt mit der Kurdenfrage verknüpft. Gleichzeitig hat sie bei der Uno die Flüchtlingszahl instrumentalisiert, um politische Forderungen, zum Beispiel nach einer "Schutzzone" auf syrischer Seite, zu stellen. Das entspricht nicht den humanitären Grundsätzen. In Suruc war kein Roter Halbmond, keine UN. Es ist die Bevölkerung, die hilft. Überall in der Region um Urfa lagern Flüchtlinge: auf den Straßen, in Turnhallen, in Busstationen.

Wie wird das in der Türkei diskutiert?

Zumindest in der kurdischen Region, wo ich war, sehr kritisch. Es gibt etliche Augenzeugen, die berichtet haben, dass die Grenze zu Syrien für die IS-Kämpfer wieder sehr durchlässig sei. Es sollen sogar Dschihadisten auf Intensivstationen in Urfa und anderen Städten behandelt werden. Der IS kann offenbar sogar in der Türkei rekrutieren.

Wie ist diese merkwürdige Strategie der türkischen Regierung zu erklären?

Die Türkei will nicht, dass die autonome kurdische Region Rojava in Nordsyrien gestärkt wird. Eher liefert sie die kurdische Bevölkerung den IS-Kämpfern aus. Damit hat der IS aber die größtmöglichen Erfolgsaussichten.

Wie war die Stimmung gegenüber den Luftschlägen der USA und ihrer arabischen Verbündeten?

Die kurdische Bevölkerung sieht auch die Luftschläge kritisch, weil sich diese Allianz unter Führung der USA selbst mandatiert hat. Man weiß nicht, wo genau bombardiert wird und ob wirklich nur IS-Stellungen angegriffen werden. Bei einer Selbstmandatierung können ja mehrere Ziele verfolgt werden.

Wie sähe aus Ihrer Sicht ein erster Schritt aus der Katastrophe aus?

Solange nicht ernsthaft die Waffenlieferungen an den IS gestoppt und ihre Finanzquellen ausgetrocknet werden, wird der IS nicht besiegt, auch nicht mit Bomben aus der Luft. Es bräuchte jetzt soziale Angebote in den sunnitischen Gebieten in Syrien, um die Rekrutierung der Dschihadisten zu stoppen. Der IS zahlt sehr gut. Die Kämpfer und ihre Familien haben ausgesorgt. Außerdem müssen die Grenzen für die kurdischen Flüchtlinge wirklich aufgemacht werden, umfassende humanitäre Hilfe auch für die Stadt Kobane, und auch Deutschland muss sich dann als Aufnahmeland deutlich stärker beteiligen als bisher.

Mit Heike Hänsel sprach Nora Schareika

Quelle: ntv.de

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