"Sie lügen!" - "Nein, Sie lügen!" Die große Zumutung der kleinen Parteien
02.09.2013, 23:22 Uhr
Trittin (r.) doziert, Brüderle (m.) schwadroniert wie vom Parteitagspult und Gysi gibt den Rumpelstilzchen der deutschen Politik.
(Foto: picture alliance / dpa)
Einen Tag nach Kanzlerin und Spitzenkandidat treten die Vertreter der kleinen Parteien in den Ring. Erst jetzt wird klar, wie klug und unterhaltsam das TV-Duell am Vorabend war. Denn was Brüderle, Trittin, Gysi und die Moderatoren hier abliefern, ist eine Zumutung.
Eines ist anders an diesem Abend. Klar, das hier sind die Spitzenkandidaten der kleineren Parteien, nicht die Kanzlerkandidaten von Union und SPD. Doch das ist es nicht. Anders als die Duellanten am Sonntag können sich diese drei nicht leiden. Noch schlimmer: Nicht einmal die Moderatoren scheinen ihre Gäste zu mögen. Oder einander.
Sie grätschten sich gegenseitig in die Moderation: WDR-Chefredakteur Schönenborn (r.) und sein BR-Kollegen Gottlieb.
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Um es kurz zu machen: Der Dreikampf in der ARD, das "kleine Duell", ist eine Katastrophe. Inhaltlich verläuft er deutlich stringenter als die inszenierte Debatte von Bundeskanzlerin Angela Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück: eine Viertelstunde Mindestlohn, dann acht Minuten Rente, zwölf Minuten Euro-Krise, vierzehn Minuten Staatsverschuldung, sieben Minuten Energiewende, zuletzt vier Minuten für die beliebten Farbenspiele. Für Syrien nimmt sich das öffentlich-rechtlich quotierte Moderatoren-Duo aus WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn und seinem BR-Kollegen Sigmund Gottlieb keine Zeit, auch der Skandal um die NSA-Affäre bleibt überraschenderweise unerwähnt.
Dafür rutscht der Ablauf des Gesprächs bald in ein geradezu denkwürdiges Chaos ab. Jürgen Trittin, Rainer Brüderle und Gregor Gysi demonstrieren an diesem Abend, wie Politiker sich benehmen müssen, damit auch der letzte Wähler sich verwirrt oder angewidert abwendet. Und Schönenborn und Gottlieb finden kein Mittel, um sie zu stoppen, im Gegenteil: Sie grätschen sich gegenseitig fleißig in die Moderation.
"Schon wieder eine Zahl!"
Beispiel gefällig? Bitte: "Herr Schönenborn, Sie müssen dazwischengehen, Herr Gysi hört nicht auf Sie", mahnt Gottlieb den Kollegen, natürlich in freundlichem Tonfall. Der revanchiert sich später: "Herr Gottlieb hat das Wort". Darauf Gottlieb: "Es ist wirklich gut in diesen Tagen, eine gegenseitige Assistenz ..." Der Satz verklingt im Nichts. "Ich stärke Ihnen den Rücken", freut sich Schönenborn. Wer solche Kollegen hat, braucht keine Feinde.
Autoritäten sind die beiden zu keinem Zeitpunkt. Sie lassen sich unterbrechen, sie sehen hilflos mit an, wie Gysi, Brüderle und Trittin sich gegenseitig ins Wort fallen. Sie werden pampig und wirken genervt. Als Gysi ein paar Zahlen nennt, mahnt Schönenborn den Linksfraktionschef, man wolle doch "keine Zahlenschlacht, da kann man sich leicht verletzen". Gysi hält sich nicht an das Verbot, was Schönenborn veranlasst, den rhetorischen Finger zu heben: "Herr Gysi, schon wieder eine Zahl!"
Wer hier lügt, ist längst egal
Auch die Politiker zeigen sich von ihrer schlechtesten Seite. Brüderle schwadroniert wie vom Parteitagspult. Er wirft Gysi Planwirtschaft vor, singt das Hohelied des Mittelstands und will jedes Problem mit Wirtschaftswachstum lösen. Trittin doziert, häufig schließt er die Augen - hat ihm nie jemand gesagt, wie arrogant das wirkt? Doch vielleicht wünscht sich der Grüne nur an einen anderen Ort. Man könnte es ihm nicht verdenken. Gysi schließlich ist der, der er immer ist. Seit mittlerweile 23 Jahren gibt er das linke Rumpelstilzchen der deutschen Politik. Man hat das alles schon so oft gesehen.
Alle zusammen reden durcheinander und hören den anderen gerade genug zu, um nicht das Stichwort für ihren nächsten Angriff zu verpassen. Als es um die Staatsverschuldung geht, eskaliert der Streit zwischen Brüderle und Trittin: "Sie lügen!", ruft der eine. "Nein, Sie lügen!", ruft der andere. Schönenborn will schlichten. Wie ein überforderter Lehrer vor unartigen Schülern geht er dazwischen: Der Vorwurf der Lüge sei sicherlich nicht so gemeint gewesen. Dem Zuschauer ist zu diesem Zeitpunkt längst egal, wer hier lügt. Nach 60 Minuten ist alles vorbei, Gewinner gibt es nicht, nur fünf Verlierer. Was bleibt, ist der spontane Wunsch nach einer Großen Koalition. Und einer anderen Gesprächskultur.
Quelle: ntv.de