Frankfurter Gleis-Attacke "Es ist richtig, die Täter-Herkunft zu nennen"
01.08.2019, 17:28 Uhr
Am Frankfurter Hauptbahnhof schubste ein Mann aus Eritrea eine Mutter mit ihrem Jungen vor einen Zug.
Nach dem Angriff am Frankfurter Hauptbahnhof wird wieder diskutiert: In welchen Fällen sollen Medien die ausländische Herkunft von Kriminellen nennen? Bei besonders schweren Straftaten müsse die Identität der Täter benannt werden, sagt der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger im Interview mit n-tv.de.
n-tv.de: Am Montag hat ein Mann eine Frau und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug im Hauptbahnhof in Frankfurt am Main gestoßen. Die Frau überlebte, das Kind kam ums Leben. Viele Medien - auch n-tv.de - nannten die Herkunft des mutmaßlichen Täters, der seit 2006 in der Schweiz lebt. Nun wird in sozialen Netzwerken und Medien erneut die Frage diskutiert, ob die Herkunft eines Täters tatsächlich wichtig ist.
Hans-Mathias Kepplinger: Generell sollten Medien bei Extremtaten das Herkunftsland von Tätern nennen, weil die Taten, um die es geht, fast immer in einem engen Zusammenhang mit ihrer kulturellen Prägung stehen. In diesem konkreten Fall war das problematisch, weil die Tat vermutlich eine andere Ursache hatte. Der Täter ist wahrscheinlich krank. Aber das konnte kurz nach der Tat kein Journalist wissen. Deshalb ist die Nennung seiner Herkunft verständlich.
"Menschen vor Züge zu stoßen" könnte - überspitzt gesagt - eine "kulturell geprägte Eigenschaft" sein? Zumal der mutmaßliche Täter in der Schweiz sesshaft ist?
Nein, aber bei einigen Schwerverbrechen kann das eine Rolle spielen. Dazu gehören Morde, Vergewaltigungen, Anschläge. Nehmen Sie die Morde in Kandel, Wiesbaden oder Freiburg oder Anschläge wie in Berlin. Dann ist es richtig, die Herkunft der Täter zu nennen. Diese Taten hängen mit ihren kulturell geprägten Denkweisen und Motiven zusammen.
Es gibt Statistiken, die genau das Gegenteil ihrer These belegen: dass Nationalität oder Religion selten etwas mit einer vermuteten oder bewiesenen Straftat zu tun haben. Eine 2018 veröffentlichten Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Gewaltkriminalität durch den Zuzug von Flüchtlingen gestiegen sei - die Neubürger aber nicht pauschal krimineller sind als Deutsche. Es wird darauf hingewiesen, dass es große Unterschiede zwischen den Herkunftsländern gibt. Vor allem junge Männer, die keine Aussicht auf eine Anerkennung als Flüchtling oder einen Asylstatus haben, fallen durch Gewalt auf. Herr Kepplinger, Herkunft und Glauben haben also oft eher nichts mit der Tat zu tun. Warum sollten dann diese Angaben in einen Bericht hineingesetzt werden, in einer Zeit, wo Vorurteile Hochkonjunktur haben?
Die Studie ist zu allgemein. Neubürger sind nicht generell krimineller, es geht nur um bestimmte Straftaten. Da sprechen die Fakten eine andere Sprache. Junge Männer sind aggressiver als ältere. Wenn viele junge Männer in ein Land kommen, nimmt die Gewaltkriminalität zu. Wenn die Migranten andere Wertvorstellungen besitzen, nehmen nicht alle, aber bestimmte Gewalttaten zu. Das trifft auch auf weniger spektakuläre Taten zu. Nehmen sie die Vorfälle im Düsseldorfer Freibad. Die Vorstellung davon, was man sich herausnehmen kann, die Vorstellung, was Ehrverletzungen sind und wie zulässig Gewalt zur Wahrung der Ehre sind, sind kulturell geprägt.
Angenommen, ein Täter wäre dänischer Herkunft. Würden die Medien auch diese nennen?
Wenn es sich um ein Verhalten handelt, das in irgendeiner Weise für Dänen typisch ist, dann ja. Es geht nicht um Religion, es geht um kulturelle Prägungen, und die unterscheiden sich halt.
Eine andere Studie, 2016 vom Mediendienst Integration veröffentlicht, kommt ebenfalls zu dem Ergebnis: "Einen übergreifenden, einfachen Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität gibt es nicht." Finden Sie Ihre Aussagen nicht pauschalisierend?
Im Unterschied zu der erwähnten Studie geht es in der von mir erwähnten Fällen nicht allgemein um Gewaltkriminalität, sondern um Extremfälle, die übrigens auch dann bundesweite Aufmerksamkeit finden, wenn sie von deutschen Tätern begangen werden. Bei einigen dieser Taten sind junge männliche Migranten überrepräsentiert. Das ist eine wichtige Information angesichts der Erwartung, dass ihre Zahl zunehmen wird. Pauschalisierend ist ein Hinweis auf die Herkunft nur dann, wenn man einen Einzelfall generalisiert. Aber es geht in den angesprochenen Fällen nicht um Einzelfälle, es sind Serien von Einzelfällen. Bei anderen Gelegenheiten, in der Kölner Silvesternacht 2015/16, waren es sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn es ein Einzelfall gewesen wäre, dann wäre die Nennung der Herkunft angesichts der Taten irrelevant und falsch gewesen.
Dann muss es auch bei allen Deutschen genannt werden?
Wenn es sich um Extremfälle handelt, dann sollten die Täter auch als Deutsche identifiziert werden.
Im März wurde hat in Basel eine verwirrte Schweizer Seniorin einen siebenjährigen Jungen aus dem Kosovo erstochen - die beiden kannten sich nicht. Eine politische Debatte gab es in den Medien nicht.
Der Fall weist Parallelen zu dem Frankfurter Fall auf. In beiden Fällen war nach heutiger Kenntnis die Herkunft nicht relevant.
Gibt es Berichterstattungen, in denen es völlig irrelevant ist, welcher Herkunft ein Täter hat?
In allen Fällen, in denen die Tat kein soziales Problem darstellt. Dann sollte die Herkunft der Täter nicht genannt werden. Dann sollte man auch die Herkunft einer Gruppe nicht in den Blickpunkt rücken.
Ist es nicht auch die Aufgabe von Journalisten, vor Ressentiments zu schützen?
Es ist dann nicht akzeptabel, wenn Minderheiten Dinge zu Unrecht vorgeworfen werden. Wenn die Vorwürfe stimmen, dann muss darüber berichtet werden. Journalisten müssen immer damit rechnen, dass bestimmte Informationen unbeabsichtigte negative Folgen haben. Trotzdem ist es wichtig, sie zu nennen. Viele Journalisten leben mit der Illusion, dass ihre Berichterstattung keine unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen hat. Das ist eine Selbsttäuschung.
Der Deutsche Presserat hat 2017 die Richtlinie des Pressekodex, die sich mit möglicher Diskriminierung durch die Berichterstattung auseinandersetzt, geändert. Bis zu jenem Zeitpunkt galt die Regelung, Herkunft und Religion eines Täters nur zu nennen, wenn diese einen "begründbaren Sachbezug" zur Tat hatten. Nach der Überarbeitung wurde festgelegt, dass in der Berichterstattung über Straftaten darauf zu achten sei, "dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt". Was halten Sie von dieser Änderung?
Ich finde die alte Regelung besser. Es ist wichtig, darauf zu schauen, ob es bei Extremtaten ein Zusammenhang zwischen der kulturellen Prägung des Täters und seiner Tat besteht oder bestehen kann. Nur dann sollte die Herkunft genannt werden. Der neue Text des Pressecodex ist eine Rücksichtnahme auf Medienwirkungen. Dadurch gerät der Journalismus auf eine schiefe Ebene. Das Verschweigen wichtiger Fakten beruht auf einer Schere im Kopf von Journalisten. Von dort bis zur Zensur ist nur ein kleiner Schritt. Der Weg wird deshalb nicht erfolgreich sein, weil die Menschen heute im Internet verschwiegene Informationen finden können. Das fördert den seit Jahren erkennbaren Verfall des Vertrauens in die Objektivität der Berichterstattung über kontroverse Themen. Daran kann niemand Interesse haben.
Mit Hans Mathias Kepplinger sprach Cidem Akol
Quelle: ntv.de