Politik

Libyen im Chaos "Gaddafi zwischen Sinn und Wahnsinn"

Tobruk im Osten Libyens. Die Kontrolle über diesen Teil des Landes hat Gaddafi verloren.

Tobruk im Osten Libyens. Die Kontrolle über diesen Teil des Landes hat Gaddafi verloren.

(Foto: AP)

Diktator Gaddafi ist rücksichtslos und schwankt zwischen Sinn und Wahnsinn, sagt der Libyen-Experte Elias Jammal. "Rational betrachtet muss man feststellen, dass Gaddafi nicht ganz zurechnungsfähig ist." Für die Zeit nach Gaddafi befürchtet Jammal "eine lange Phase des Blutvergießens", denn die bislang existierenden libyschen Institutionen seien "nur ein Anspruch und keine Realität".

n-tv.de: Hat Sie das Ausmaß der Brutalität, mit der das Gaddafi-Regime an der Macht festhält, überrascht?

Elias Jammal: Nein, keineswegs. Wer das Land und vor allem die Geschichte des Landes kennt, der weiß, wie brutal Gaddafi sein kann. Gegen die Islamisten ist er in den 80er und 90er Jahren mit genau der gleichen Brutalität vorgegangen, auch da hat er keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen. Am 19. Juli 1990 rief Gaddafi zur physischen Liquidierung der Muslimbrüder auf.

Bruch mit dem System: In Tobruk verbrennen Demonstranten ein Exemplar des "Grünen Buchs" von Gaddafi.

Bruch mit dem System: In Tobruk verbrennen Demonstranten ein Exemplar des "Grünen Buchs" von Gaddafi.

(Foto: REUTERS)

Die Aufständischen in Libyen fordern das Ende des Gaddafi-Regimes. Was für eine Art Diktatur ist das eigentlich?

Das politische System in Libyen hat eine duale Struktur. Das eine sind der Allgemeine Volkskongress und die 468 Basis-Volkskongresse sowie das Allgemeine Volkkomitee und die zahlreichen Basis-Volkskomitees auf Provinzebene. Das ist Gaddafis sozialistisch-islamische "Direktdemokratie". Die andere Struktur ist die der Revolution. Da gibt es den Revolutionsrat, den Gaddafi leitet - er ist ja der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Und dann gibt es mehrere Revolutionskomitees überall im Lande. Die Loyalität der Mitglieder ist erkauft, und über diese Komitees kontrolliert Gaddafi das Land. Dazu kommt noch die Stammesstruktur der Gesellschaft, die er bislang geschickt ausnutzen konnte.

Libyen hat keine Verfassung ...

... statt dessen werden immer wieder neue Paragrafen eingeführt. So ist die Todesstrafe für "antirevolutionäre Kräfte", mit der er in seiner jüngsten Rede gedroht hat, auf sein Betreiben eingeführt worden. Er selbst taucht nie auf, wenn Gesetze im Allgemeinen Volkskongress verabschiedet werden, aber natürlich stammen die entscheidenden Gesetze von ihm.

Das politische System basiert auf Gaddafis "Grünem Buch". Was ist das für ein Buch?

Das Buch schwankt zwischen Sinn und Wahnsinn. Bei vielen Passagen denkt man als Leser, hier hat man es mit Ideen zu tun, die keinerlei Bezug zur Realität haben. Er hat den Anspruch, neben der demokratischen Marktwirtschaft und dem Sozialismus eine dritte Ideologie in die Welt zu setzen, die islamisch-sozialistische Direktdemokratie. Das "Grüne Buch" erläutert die Leitlinien eines solchen Staates. Parteien beispielsweise lehnt er ab, die Demokratie solle keine Parteien haben, die das Volk vertreten. Er lehnt auch die Imame ab - der Koran spreche für sich.

Wie ist es mit seinem Verhältnis zu Afrika? Er sieht sich als eine Art afrikanischer Ehrenpräsident, soll aber ein Rassist sein, der Schwarzafrikaner verachtet. Auch die afrikanischen Flüchtlinge werden in Libyen ja brutal behandelt.

Bei seinem Fernsehauftritt am 22. Januar liest Gaddafi auch aus seinem "Grünen Buch" vor. Den Demonstranten droht er mit einem Massaker "ähnlich wie auf dem Tiananmen-Platz" in Peking 1989.

Bei seinem Fernsehauftritt am 22. Januar liest Gaddafi auch aus seinem "Grünen Buch" vor. Den Demonstranten droht er mit einem Massaker "ähnlich wie auf dem Tiananmen-Platz" in Peking 1989.

(Foto: Reuters)

Solche Positionen sind es, bei denen man Rationalität und Irrationalität kaum voneinander trennen kann. Er hat Afrikaner als Söldner in seinen paramilitärischen Einheiten und sieht sich als das geistige Oberhaupt Afrikas. Er will Afrika islamisieren, aber nach seiner Version des Islam. Gleichzeitig verachtet er Schwarzafrikaner. In vielen Äußerungen zeigt er sich als Rassist. Eine Rationalität, wie wir sie von Staatsmännern erwarten, können wir von Gaddafi nicht erwarten. Seine jüngste Rede war ja ein Paradebeispiel dafür. Er sagte, die jungen Leute, die auf die Straße gehen, seien alle auf Droge, sie schluckten Tabletten. Ich glaube nicht, dass das nur ein Vorwand war - er glaubt das tatsächlich. Rational betrachtet muss man feststellen, dass Gaddafi nicht ganz zurechnungsfähig ist.

Wer interpretiert den Islam in Libyen, wenn Gaddafi die Imame nicht gelten lässt?

Er selbst. Gaddafi sagt, man muss den Koran für sich sprechen lassen und gibt zugleich die großen Leitlinien der Interpretation. Er sieht sich nicht nur als staatliches, sondern auch als religiöses Oberhaupt. Er ist zwar Sunnit, aber seine Position ist eigentlich der größte Angriff gegen den sunnitischen Islam. Das Wort leitet sich ja vom Begriff "Sunna" ab. Das sind die Menschen, die Muhammed gefolgt sind. Natürlich berufen sich die Sunniten auf den Koran, aber ebenso auf die Überlieferung und die Taten Muhammeds. Daraus leitet sich auch die Rechtsprechung ab. Der Koran enthält ganz wenige Textstellen, die für die Rechtsprechung relevant sind, die Scharia beruft sich maßgeblich auf die überlieferten Aussagen Muhammeds und seine Taten. Das lehnt Gaddafi ab.

Ausgebranntes Armeefahrzeug in der Stadt Al-Mardsch.

Ausgebranntes Armeefahrzeug in der Stadt Al-Mardsch.

(Foto: REUTERS)

Welche Rolle spielen die Stämme in Libyen?

Es gibt ungefähr 140 Stämme und Großfamilien in Libyen. Sein Stamm gehört nicht zu den großen, aber natürlich hat er im Laufe der Zeit an Stärke gewonnen. Wir können uns nicht auf die Nachrichten aus Libyen verlassen, aber angeblich haben sich zwei sehr große Stämme gegen Gaddafi gewendet, Warfalla und Magarha. Wenn das stimmt, wenn die großen Stämme sich gegen Gaddafi kehren, kann es das Blatt entscheidend wenden.

Und die Armee?

Auch hier gibt es eine duale Struktur. Neben der Armee gibt es militärische Einheiten, die Gaddafi oder seinen Söhnen direkt unterstellt sind. Gaddafi hat ja acht Kinder, sieben Söhne und eine Tochter. Die Kinder sitzen in Schlüsselpositionen. Selbst wenn die Armee sich auf die Seite der jungen Menschen stellt, die auf die Straßen gegangen sind, ist nicht davon auszugehen, dass die anderen militärischen Einheiten die Kampfhandlungen einstellen. Das macht die Sache sehr brisant.

Woher kommen die afrikanischen Söldner?

Die gehören zu den paramilitärischen und den militärischen Einheiten, die mit der Armee nichts zu tun haben. Das sind gut bezahlte Söldner aus dem Tschad, aus Mauretanien und anderen afrikanischen Ländern. Es gibt aber auch Söldner aus Kroatien und aus Serbien.

Das Interesse des Westens: Öl geht vor Freiheit und Demokratie.

Das Interesse des Westens: Öl geht vor Freiheit und Demokratie.

(Foto: AP)

Wer könnte nach Gaddafi die Macht übernehmen, wenn der Diktator fliehen oder getötet werden sollte?

Das ist die große Frage. Es ist nicht so wie in Ägypten, wo man auch ohne Mubarak Strukturen und Prozesse hat, von denen man ausgehen kann. Die libyschen Institutionen sind nur ein Anspruch und keine Realität. Die einzige organisierte Gruppe mit einer langen Tradition sind die Islamisten von Sanussi, der alten Königsfamilie. Die könnten eine wichtige Rolle spielen.

Wäre die Rückkehr zur Monarchie eine realistische Option für Libyen? Der Großneffe des letzten Königs lebt ja noch.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Die jungen Menschen, die in Libyen protestieren, leben in einer anderen Welt. Das werden sie nicht zulassen.

Was erwarten Sie für die nahe Zukunft in Libyen?

Die Machtstrukturen in Libyen, die jetzt zerschlagen werden, haben - egal, wie man zu ihnen steht - ein Chaos zur Ruhe gebracht. Wenn dieser Deckel weg ist, kann es sein, dass Chaos eintritt.

Wie im Irak.

Ja. Libyen, auch Jemen und Jordanien, das sind Stammesgesellschaften. Wenn dort die Zentralmacht zerbricht, entsteht ein Vakuum. Das kann zu einer langen Phase des Blutvergießens führen.

Die EU hat sich bislang nicht zu Sanktionen gegen Libyen durchringen können, was wohl auch an der Freundschaft zwischen Berlusconi und Gaddafi liegt.

Das ist natürlich sehr schade. Aber da sieht man auch, dass die ehemaligen Kolonien und ihre Kolonialmächte weiterhin sympathisieren. Dass auch Berlusconi und Gaddafi persönlich enge Freunde wurden, braucht man wirklich nicht zu kommentieren, das liegt vermutlich an einer gewissen Ähnlichkeit der Charaktere. Ich finde es aber erfreulich, dass die deutsche Bundesregierung das Vorgehen Gaddafis verurteilt hat, viel stärker als noch in Ägypten - die deutsche Reaktion auf das Vorgehen des dortigen Regimes war ja eher beschämend. Vielleicht hat man daraus etwas gelernt.

Elias Jammal ist Leiter des Orient Instituts für Interkulturelle Studien der Hochschule Heilbronn.

Elias Jammal ist Leiter des Orient Instituts für Interkulturelle Studien der Hochschule Heilbronn.

Die EU hat auf vielen Ebenen mit Gaddafi zusammengearbeitet, beim Öl, bei der Abwehr afrikanischer Flüchtlinge. Welche Glaubwürdigkeit hat Europa noch in der Region?

Jetzt wissen es auf einmal alle: Wir haben zu ausschließlich auf Sicherheit gesetzt. Die jungen Menschen in Libyen, Tunesien und in Ägypten werden nicht so schnell vergessen, dass Europa zwar viel von Werten gesprochen, aber kaum danach gehandelt hat, als zum Beispiel das ägyptische Volk nach Freiheit und Demokratie rief. Das wird die Beziehungen zwischen den arabischen Ländern und Europa verändern. Aber das gilt ohnehin: Die Welt wird nicht mehr so aussehen wie in der Zeit von Gaddafi, Ben Ali und Mubarak.

Mit Elias Jammal sprach Hubertus Volmer

 

Quelle: ntv.de

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