Milizen stoppen Flucht Saif al-Islams Gaddafis Sohn lebendig gefangen
21.10.2011, 15:21 Uhr
Saif al-Islam galt als designierter Nachfolger seines Vaters.
(Foto: picture alliance / dpa)
Saif al-Islam ist entgegen anderslautender Berichte nicht tot. Der Sohn des libyschen Ex-Diktators Gaddafi befindet sich in der Hand der Nationalratsmilizen. Das Rätsel über den Tod seines Vater bleibt derweil ungelöst Ein Arzt behauptet, er sei "aus nächster Nähe erschossen worden" - und widerspricht der Regierung.
Saif al-Islam, der Sohn des getöteten Muammar al-Gaddafi, ist angeblich festgenommen worden. Die Gefangennahme erfolgte in Slitan, 160 Kilometer östlich von Tripolis, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Arabija unter Berufung auf einen beteiligten Kämpfer der Nationalratsmilizen. Saif al-Islam soll am Rücken verletzt sein, hieß es. Offiziell wurde der Bericht noch nicht bestätigt.
Die Nachricht bestätigt die Zweifel an der Meldung des libyschen Staatsfernsehens, Saif al-Islam sei gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder Mutassim getötet worden. Anders als im Falle seines Vaters und seines Bruders waren aber keine Bilder von ihm aufgetaucht. Die beiden Leichname des Ex-Diktators und seines Sohnes Mutassim waren ins Krankenhaus von Misrata gebracht worden. Dort hatte sie auch ein Mitarbeiter der Fotoagentur epa gesehen.
Saif al-Islam al-Gaddafi war zur Zeit des Regimes seines Vaters dessen rechte Hand und mehr oder weniger offen als sein Nachfolger gehandelt worden. Mutassim war ein Karrieresoldat und arbeitete als Arzt.
Die Beerdigung Muammar Gaddafis wird sich nach Angaben der Übergangsregierung noch um einige Tage verzögern. Ein Termin stehe noch nicht fest, sagte der Ölminister des Übergangsrats, Ali Tarhuni.
Es sei beschlossen worden, den Leichnam noch für einige Tage aufzubewahren, damit sich jeder davon überzeugen könne, dass Gaddafi tot sei, sagte Tarhuni weiter. Derzeit befinde sich die Leiche in Misrata. Sie wurde in einem Kühlraum aufgebahrt. Eine Entscheidung darüber, wo Gaddafi beigesetzt werden solle, sei noch nicht gefallen, sagte Tarhuni. Zunächst hatte es geheißen, der am Vortag getötete Gaddafi solle noch heute beigesetzt werden.
"Schüsse aus nächster Nähe"
Weiterhin herrscht Unklarheit, wie Gaddafi am Donnerstag getötet wurde. Ministerpräsident Mahmud Dschibril erklärte, Gaddafi sei zunächst gefangen genommen worden. Dann sei der Pritschenwagen, mit dem der gefangenen Gaddafi von Sirte in die Küstenstadt Misrata gebracht werden sollte, unter Beschuss durch Anhänger des langjährigen Diktators geraten. Dabei wurde Gaddafi nach Angaben Dschibrils schwer an Kopf und Bauch verletzt. Er sei kurz vor der Ankunft im Krankenhaus von Misrata an dem schweren Blutverlust gestorben, erklärte der Ministerpräsident.
Nach Einschätzung eines Arztes starb Gaddafi dagegen durch "Schüsse aus nächster Nähe in Kopf und Bauch". Ein Mediziner im Krankenhaus von Misrata, der Gaddafis Leiche untersucht habe, sei zu diesem Schluss gelangt, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Arabija. Dies könnte auf eine Liquidierung nach der Gefangennahme hindeuten. Ähnlich hatten sich zuvor bereits Kämpfer des Übergangsrates geäußert.
Ein Kämpfer der Nationalrats-Milizen, der nach eigenen Angaben am Donnerstag bei Gaddafis Festnahme in Sirte dabei war, stellte die Situation im Nachrichtensender Al-Dschasira anders dar. Nach einem heftigen Feuergefecht mit seinen Leibwächtern am Zugang zu dem Abwasserrohr, in dem er sich versteckt hielt, habe sich Gaddafi ohne weitere Schwierigkeiten festnehmen lassen, sagte der Milizionär Osama al-Tajib. "Wir übergaben ihn dem Sicherheitskomitee", führte er weiter aus. "Doch dann brach ein Gefecht zwischen den Gaddafi-Loyalisten und den Revolutionären aus." Gaddafi sei dabei durch Schüsse an Kopf und Brust getroffen worden. "Wir legten ihn einen Ambulanzwagen, ein Arzt machte Wiederbelebungsversuche, aber er starb."
Flucht in den Abwasserkanal
Zuvor soll Gaddafi laut einem Bericht nach der Einnahme Sirtes durch Kämpfer der Übergangsregierung versucht haben, sich mit einigen Leibwächtern abzusetzen. Er konnte demnach in einer Wagenkolonne den Belagerungsring um die Stadt durchbrechen. Der Konvoi wurde nach NATO-Angaben aber entweder von einem französischen Kampfflugzeug oder einer US-Drohne vom Typ Predator angegriffen. Gaddafi konnte Kämpfern zufolge zunächst Schutz suchen. Als ihn die Revolutionstruppen dort entdeckt hätten, sei er ihnen mit einer Pistole in der Hand entgegengetreten. Er sei nicht von den Kämpfern zu Tode geprügelt worden, stellte Dschibril fest.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte eine Untersuchung der Todesumstände. Die neue Regierung müsse mit der "Kultur des Missbrauchs" unter Gaddafi vollständig brechen und Menschenrechtsreformen durchsetzen, die das Land bitter nötig habe, hieß es. Auch die Vereinten Nationen forderten eine Untersuchung. "Wir wissen nicht, wie er gestorben ist. Dazu muss es eine Untersuchung geben", sagte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, in Genf. Vermutlich werde es zu einer internationalen Untersuchungskommission kommen.
Die NATO hatte nach eigenen Angaben keine Kenntnis davon, dass Gaddafi in einem der angegriffenen Fahrzeuge saß. Demnach sei von den NATO-Flugzeugen ein Konvoi von etwa 75 Militärfahrzeugen in der Nähe der Stadt Sirte entdeckt worden. Zunächst sei ein einziges Fahrzeug beschossen worden, "um die Bedrohung zu verringern". Daraufhin habe sich der Konvoi aufgeteilt, die gepanzerten Fahrzeuge seien in verschiedene Richtungen gefahren. Sie seien mit "einer erheblichen Menge von Waffen und Munition beladen" gewesen.
Eine Gruppe von 20 Fahrzeugen sei dann mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Süden gefahren. NATO-Flugzeuge hätten daraufhin auf diese Fahrzeuge geschossen und etwa 10 davon zerstört. "Zur Zeit des Angriffs wusste die NATO nicht, dass sich Gaddafi in dem Konvoi befand", heißt es in der Mitteilung der NATO. "Das Eingreifen der NATO war ausschließlich durch die Verringerung der Bedrohung für die Bevölkerung begründet."
Regierung in 30 Tagen
Nach dem Ende der Ära Gaddafi . Nur wenige Stunden nach dem Tod des früheren Machthabers begann der Übergangsrat mit der Bildung eines neuen Staatswesens. Dschibril sagte nach Angaben des Senders Al-Dschasira, die neuen Machthaber wollten an diesem Samstag offiziell . Dann werde binnen 30 Tagen eine neue Übergangsregierung gebildet. Diese werde ihr Hauptquartier von Bengasi, wo vor acht Monaten der Volksaufstand gegen Gaddafi begann, in die Hauptstadt Tripolis verlegen. Acht Monate später solle ein Nationalkongress einberufen werden, um die Weichen für einen kompletten Neuanfang zu stellen.
Dschibril hatte vor einigen Wochen, als einige Kommandeure der Revolutionsarmee und einige frühere Oppositionelle Kritik an seinem Führungsstil geäußert hatten, erklärt, er stehe für den Posten des Ministerpräsidenten der ersten offiziellen Übergangsregierung nicht zur Verfügung.
Haar- und Gewebeproben genommen
Die einstigen Rebellen , mit dem das monatelange Blutvergießen in Libyen zu Ende gehen dürfte. Nach einem Bericht der "New York Times" wurde Gaddafis Leichnam in Misrata von Hunderten Menschen angeschaut. Feiernde Soldaten der Übergangsregierung gaben unterdessen die Trophäen der Festnahme von Hand zu Hand weiter - Gaddafis goldene Pistole, sein Satellitentelefon, seinen braunen Schal und einen schwarzen Stiefel. Außer Gaddafi und seinem Sohn Mutassim sollen auch Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi und Verteidigungsminister Abu Bakr Junis in Sirte getötet worden sein.
Dschibril erklärte, der Übergangsrat habe, nachdem Gaddafi getötet worden sei, Kontakt mit dem Internationalen Strafgerichtshof aufgenommen. Das Gericht habe die Libyer gebeten, Gaddafi vorerst nicht zu begraben, damit der Leichnam untersucht werden könne. Der Übergangsrat habe jedoch anders entschieden. Allerdings hätten Ärzte Haar- und Gewebeproben von der Leiche genommen, um keine Zweifel an der Identität des Getöteten aufkommen zu lassen. Dabei hätten die Ärzte festgestellt, dass ein großer Teil der oft wirr vom Kopf stehenden langen Haare Gaddafis "künstliche Haare" gewesen seien. Gaddafi, der auch gerne hohe Absätze und prunkvolle Gewänder trug, habe in Wirklichkeit eine Halbglatze gehabt.
Nach Ansicht von Experten ist der Tod Gaddafis besser für die weitere Entwicklung des Landes. "Der große Vorteil" sei, dass nun kein Gerichtsverfahren stattfinden müsse. "Man kann sich sofort den Herausforderungen der Zukunft stellen", sagte Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz im "Deutschlandfunk". Die Frage sei aber: "Was passiert mit den Milizen, die wirklich hervorragend ausgerüstet sind?" Es sei ungewiss, ob sie bereit seien, ihre Waffen abzugeben.
NATO berät über Ende des Einsatzes
Die NATO-Länder streben derweil ein Ende des Einsatzes in dem nordafrikanischen Land an. Bei Beratungen wollen die NATO-Botschafter "über eine Beendigung des Einsatzes diskutieren", sagte ein NATO-Diplomat in Brüssel. Eine Entscheidung werde "angestrebt". Demnach ist jedoch nicht sicher, ob bereits über eine Beendigung des Einsatzes entschieden wird. Nach Ansicht von Frankreichs Außenminister Alain Juppé ist "das gesamte libysche Staatsgebiet unter der Kontrolle des Nationalen Übergangsrats".
US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßten in einer Videokonferenz das Ende des Regimes Gaddafis. Es sei ein "außergewöhnlicher Tag" für die NATO-geführte Militärallianz, vor allem aber für die libysche Bevölkerung. "Sie haben ihre Revolution gewonnen", sagte Obama an die Rebellen gerichtet. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem Schlusspunkt unter dem Regime Gaddafi. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprach von einem "historischen Übergang", Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy sprach von einem "großen Schritt" im libyschen Freiheitskampf.
Die chinesische Regierung äußerte sich nicht direkt zum Tod Gaddafis, sondern äußerte vielmehr die Hoffnung auf eine baldige Stabilisierung in dem Land. Der Iran begrüßte Gaddafis Tod und forderte ein sofortiges Ende des NATO-Einsatzes. "Das unausweichliche Schicksal aller Diktatoren und Unterdrücker, die die Rechte der Völker nicht respektieren, ist die Zerstörung", erklärte Außenamtssprecher Ramin Mehmanparast laut der Nachrichtenagentur Irna.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts