Deutsche Bahn in der Kostenfalle Geißler kritisiert Basta-Politik
17.10.2010, 08:06 Uhr
(Foto: dpa)
S21-Schlichter Geißler fordert ein anderes Demokratieverständnis und verbannt Basta-Entscheidungen ins vorige Jahrhundert. FDP-Politiker Niebel sieht dabei das politische System in Gefahr. Bei einer erneuten Demonstration vor dem Stuttgarter Bahnhof besetzen Protestler den Südflügel. Auf die Bahn kommen Kosten in Milliardenhöhe zu.
Der Schlichter im Streit über Stuttgart 21, Heiner Geißler, hat die Entscheidungsprozesse bei dem milliarden-teuren Bahn-Projekt in der Vergangenheit kritisiert. "Staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger gehören dem vorigen Jahrhundert an", sagte Geißler der "Bild"-Zeitung. "Die Schlichtung ist ein deutliches Signal dafür, dass in Deutschland die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei ist."
In Stuttgart waren zuvor erneut tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den Milliarden-Bau zu protestieren. Allerdings kamen bei regnerischem Herbstwetter deutlich weniger Demonstranten als von den Veranstaltern erwartet. Während sie von 100.000 Teilnehmern ausgegangen waren, kamen nach ihren Angaben gerade einmal 25.000 Menschen. Nach Darstellung der Polizei waren es sogar nur 18.000.
Höhepunkt war der Auftritt des Liedermachers Konstantin Wecker. Er rief zu einer Zukunft des Miteinanders auf. "Lasst uns aufstehen, lasst uns schreien, gegen all die Mauscheleien", sang er in einem kurzen Konzert.
Sollte Stuttgart 21 gekippt werden, kämen auf die Deutsche Bahn Kosten in Höhe von mehr als drei Milliarden Euro zu, heißt es in Medienberichten. Die Bahn soll bereits 1,43 Milliarden Euro in das Projekt gesteckt haben. Bei einem Ausstieg müsste die Bahn demnach zusätzlich 1,8 Milliarden Euro in die Erneuerung des Gleisvorfeldes des bisherigen Bahnhofes investieren.
Südflügel wird besetzt
Nach der Kundgebung auf dem Schlossplatz kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Etwa 60 Demonstranten drangen nach Angaben eines Polizeisprechers am späten Nachmittag gewaltsam in den Südflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs ein und besetzten ihn. Als die Polizei begann, das Gebäude zu räumen, versetzte demnach ein Demonstrant einem Beamten mit einem Gegenstand einen Schlag, so dass dem Beamten ein Finger gebrochen wurde. Über die Art des Gegenstandes konnte der Sprecher zunächst keine Angaben machen.
Vor dem Südflügel seien währenddessen hunderte Menschen auf der Straße gewesen, sagte der Polizeisprecher weiter. Eine aufgebrachte Menge habe ein ziviles Einsatzfahrzeug der Polizei massiv blockiert. Die Demonstranten hätten das Auto geschaukelt, es zerkratzt und dagegengetrommelt und sich unter das Fahrzeug gelegt. Insgesamt 300 Polizisten seien im Einsatz gewesen.
Der Nordflügel des Bahnhofs ist bereits abgerissen. Der Südflügel soll noch mindestens bis zur Landtagswahl im kommenden März stehenbleiben.
Trittin attackiert Grube
Trotz des begonnenen Schlichtungsverfahrens geht der Streit auch auf der Ebene der Politik in unverminderter Schärfe weiter. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin warf Bahn-Chef Rüdiger Grube vor, die Bemühungen des Schlichters Heiner Geißler zu torpedieren. "Er eskaliert, provoziert, polarisiert", sagte Trittin der "Bild am Sonntag". Er untergrabe jeden Schlichtungsvorschlag Geißlers.
"Während der Schlichtung dürfen keine Fakten geschaffen werden, die eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung vorwegnehmen. Deshalb darf Grube jetzt keinen Auftrag über 800 Millionen Euro für den Tunnelbau vergeben. So schafft er Schadenersatzansprüche von morgen", sagte Trittin.
Die Deutsche Bahn wies die Kritik Trittins als "unbegründet und unberechtigt" zurück. Die Bahn setze weiterhin auf "Dialog und Argumente in der Sache", erklärte das Unternehmen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich erneut hinter Stuttgart 21. Es handele sich um ein wichtiges Verkehrsprojekt für Europa, sagte Merkel auf dem "Deutschlandtag" der Jungen Union in Potsdam. Sie rief dazu auf, Kritiker zu überzeugen.
"Stuttgart 21 oder Naturkundemuseum"
Die FDP lehnt jeden Kompromiss ab. Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) sagte, bei Stuttgart 21 "gibt es nichts zu vermitteln. Die Frage, um die es geht, kann man mit Ja oder Nein beantworten". Der Minister, der im baden-württembergischen Heidelberg lebt, betonte in der "Welt am Sonntag", rechtlich und politisch sei eine Umkehr bei Stuttgart 21 unmöglich. "Sie wäre auch falsch", so Niebel weiter.
Wenn Projekte wie Stuttgart 21 nicht mehr möglich seien, "dann können wir eine Kette um Deutschland legen und ein Schild Naturkundemuseum dranhängen", so Niebel. "Wenn man nun dem Druck der Straße folgt, ist die repräsentative Demokratie am Ende."
Mit Blick auf die Landtagswahlen im kommenden Jahr kündigte FDP-Chef Guido Westerwelle an, die Veränderungsbereitschaft in Deutschland zum Thema zu machen: "Ich habe große Lust, diesen gesellschaftlichen Kampf aufzunehmen und auszutragen: Es geht darum, ob Dagegen-Parteien wie SPD, Grüne und Linkspartei die Zukunft verbauen oder ob die Kräfte des Dafür Chancen und Perspektiven schaffen."
Palmer setzt auf Volksentscheid
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von den Grünen schloss dagegen eine Einigung ohne Volksentscheid aus. Dieser sei der einzige Weg, "wirklich Frieden herzustellen", sagte Palmer im Deutschlandradio Kultur. Die Aufgabe der Vermittlungsgespräche sei dagegen die Klärung der Faktenlage. Aufgrund der Masse von Argumenten, darunter auch absichtlich gezündete "Nebelkerzen", sei dies die Voraussetzung für eine Volksabstimmung.
Auch die SPD setzt auf eine Volksabstimmung zur Entschärfung des Konflikts. "Darüber darf man nicht nur die Stuttgarter abstimmen lassen", sagte der Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel dem "Weser-Kurier". Das Großprojekt sei "kein Beweis für die Unregierbarkeit Deutschlands, sondern für schlechtes Regieren in Deutschland". Die SPD stehe allerdings weiter zu den S21-Plänen. "Wir können es uns nicht leisten, nach Verkehrsverlagerung auf die Schiene zu rufen und dann gegen jede Bahnstrecke zu sein."
SPD wählt Schmid
Unterdessen wählte die baden-württembergische SPD ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im März 2011. Bei einem Parteitag in Ulm erhielt der Landesvorsitzende Nils Schmid 92 Prozent der Stimmen. Kandidat der CDU ist Ministerpräsident Stefan Mappus, für die Grünen geht ihr Fraktionschef Winfried Kretschmann ins Rennen. Kretschmann hat Chancen, erster grüner Ministerpräsident in Deutschland zu werden: Umfragen zufolge könnten die Grünen mehr Stimmen erhalten als die SPD.
Mit Blick auf die Grünen sagte Schmid: "Wer eine Regierung führen will, muss mehr bieten, als einen Protest anzuführen." Schmid warf Mappus eine "durchgehende Politik der Bürgerferne" vor. "Er ist Ministerpräsident, das ist aber auch alles." Mappus habe kein Gespür dafür, was Baden-Württemberg zusammenhalte. An seinem Umgang mit dem Streit um Stuttgart 21 erkenne man, dass Mappus die Bevölkerung spalte.
Quelle: ntv.de, dpa/rts