Rot-grün für Hessen Großes Stühlerücken
24.10.2008, 19:22 UhrFast neun Monate nach der Landtagswahl in Hessen haben sich SPD und Grüne auf die Bildung einer Minderheitsregierung geeinigt. Dem neuen Kabinett unter einer Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti (SPD) sollen insgesamt zehn Minister angehören. Es ist auf die Tolerierung der Linken angewiesen. Zwei Ressorts werden laut Vereinbarung von den Grünen besetzt. Deren Vorsitzender Tarek Al-Wazir soll stellvertretender Ministerpräsident und Umweltminister werden.
Am 4. November wollen SPD und Grüne die neunjährige Regierungszeit von Ministerpräsident Roland Koch (CDU) beenden. Ypsilanti braucht zu ihrer Wahl im Wiesbadener Landtag die Stimmen der Linken. Ohne die SPD-Rebellin Dagmar Metzger verfügen Sozialdemokraten, Grüne und Linke über 56 Stimmen im Landtag, Ypsilanti kann sich bei der Wahl keinen Abweichler leisten.
"Musterland erneuerbarer Energien"
Ypsilanti und Al-Wazir erklärten zum Abschluss der wochenlangen Verhandlungen, sie wollten Bildung, Umwelt und Soziales zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit machen. Hessen solle ein "Musterland der erneuerbaren Energien" werden.
Beim Streitpunkt Ausbau des Frankfurter Flughafens soll es laut Ypsilanti ein "ergänzendes Verfahren" geben, um ein Nachtflugverbot zu erreichen. Der Betreiber Fraport werde aufgefordert, mit den Bauarbeiten bis zu einer Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes, aber längstens bis Ende 2009 zu warten. Der Flughafen Kassel-Calden solle modernisiert werden und seine Funktion für den Geschäftsreiseverkehr behalten.
Doppelhaushalt
Sorgen macht den neuen Partnern vor allem die Finanzlage des Landes. Die CDU-Regierung hinterlasse eine "große Erblast", sagte Ypsilanti. Im Haushalt klaffe eine Lücke von 1,5 Milliarden Euro. Der Grünen-Vorsitzende Al-Wazir meinte, man habe noch nicht das ganze Ausmaß der Schuldenlast ans Tageslicht gebracht.
Ypsilanti kündigte für die nächsten beiden Jahre einen Doppelhaushalt an. Darin müssten pro Jahr 200 Millionen Euro zusätzlich eingespart werden, um neue Programme zu finanzieren. Für die politischen Ziele will Rot-Grün laut Ypsilanti 2009 rund 170 Millionen Euro und 2010 sogar 260 Millionen Euro ausgeben. So solle es 40 Millionen Euro zusätzlich für eine bessere Lehrerversorgung, kleinere Klassen und mehr Ganztagsschulen geben.
Einführung des "Wassercent"
Al-Wazir als designierter Umweltminister sagte, dass er für erneuerbare Energien zuständig sein werde. Dafür kämen zwei Referate aus dem Wirtschaftsministerium zum Umweltministerium. Das Wirtschaftsministerium, geführt von dem SPD-Politiker Hermann Scheer, verantworte die "ordnungsrechtlichen Fragen der Energie".
Al-Wazir kündigte die Einführung eines "Wassercent" an, den vor allem Kraftwerke für ihre Wassernutzung zahlen sollten. Die Belastung für die Bürger werde rund einen Euro pro Monat betragen. Die Einnahmen des Landes aus der Abgabe veranschlagte er auf 130 Millionen Euro pro Jahr, die zweckgebunden für die Umwelt eingesetzt würden.
Der stellvertretende SPD-Landesvorsitzende und prominenteste Vertreter der SPD-Rechten, Jürgen Walter, lehnte unterdessen nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen überraschend einen Ministerposten ab. Walter lässt sich so nicht in die Kabinettsdisziplin einbinden. Er sagte Ypsilanti aber seine Unterstützung bei der Wahl zur Ministerpräsidentin zu.
"Harakiri- Experiment"
Der Vertrag muss noch von Parteitagen der SPD (1. November) und Grünen (2. November) gebilligt werden. Bei den Linken läuft ein Mitgliederentscheid, ob die Partei im Landtag eine rot-grüne Minderheitsregierung dulden soll.
Die hessische CDU und die FDP sehen in dem Koalitionsvertrag übereinstimmend eine Kampfansage an die hessische Wirtschaft. Die Bundes-CDU bezeichnete die Verständigung als "waghalsiges politisches Experiment" auf der "Basis eines Wortbruchs". Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) warnte die Sozialdemokraten vor einem "Harakiri- Experiment", das sie abhängig mache von der Zustimmung der Linken mache, die die soziale Marktwirtschaft insgesamt in Frage stellten.
Dagegen haben die Grünen im Bund die Einigung ihrer hessischen Parteifreunde begrüßt. Die Parteivorsitzende Claudia Roth sagte in Berlin: "Heute wurde eine wichtige Hürde genommen, um Hessen aus der Umklammerung von Roland Koch zu befreien." Der Koalitionsvertrag sei eine klare Alternative zu verfehlter CDU-Politik der vergangenen Jahre.
Schröder-Kritikerin
Ypsilanti, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, hat Spanisch in Madrid und später Soziologie in Frankfurt studiert. Mit 29 trat Ypsilanti der SPD bei, 1994 wurde sie Referatsleiterin in der Staatskanzlei, 2003 übernahm sie den Vorsitz der Hessen-SPD und profilierte sich als linke Kritikerin der Sozial- und Arbeitsmarktreformen des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD).
Quelle: ntv.de