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EU-Wahlprogramm bietet jedem was Grüne versuchen sich noch einmal als Volkspartei

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Drei mit Lust auf Europa: Büning, Lang und Nouripour.

Drei mit Lust auf Europa: Büning, Lang und Nouripour.

(Foto: picture alliance/dpa)

Bloß nicht zurück in die Nische, warnt die Parteiführung der Grünen. Inmitten ihres Umfragetiefs schreibt die Partei ein Europawahlprogramm, das vor allem auf Wohlstand, Sicherheit und Ordnung setzt - und weniger auf Themen und Motive der Stammklientel. Das könnte intern für Misstöne sorgen

Die Grünen haben jetzt ein neues Design. Es geht dabei vor allem um Farben und Schriftbilder, doch die Neuerungen sind eher Nuancen. Am markantesten: Das Grün ist jetzt dunkler. "Wir nennen sie 'Tanne'", sagt Bundesgeschäftsführerin Emily Büning über die Farbe, als sie zusammen mit den Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour in Berlin das Europawahlprogramm vorstellt. Das dunklere Grün sei "staatstragender" und symbolisiere die Verantwortung, die die Grünen schon länger auch im Bund übernommen haben. Kurz: Knallgrün war gestern und genauso verkaufen die Grünen auch ihre Ideen für die Zukunft der Europäischen Union. "Was uns schützt" heißt der rund 100 Seiten lange Programmentwurf, den noch ein Parteitag absegnen muss. Er setzt auf die Themen Wohlstand, Sicherheit und Ordnung und leitet vor allem aus diesen Zielen die Notwendigkeit einer konsequenten Klimaschutzpolitik ab.

Das Wahlprogramm deckt - wie üblich - das gesamte Spektrum politischer Themen ab, interessant ist daher vor allem die Setzung der Schwerpunkte. In einer Zeit, in der die Menschen vor allem wegen des Konflikts mit Russland und den immensen wirtschaftlichen Herausforderungen besorgt sind und nicht wenige von ihnen die Grünen mitverantwortlich machen für diese Probleme, will die Partei offensichtlich nicht durch Klima-Alarmismus auffallen und schon gar nicht mit so polarisierenden Themen wie Flüchtlingsverteilung und Seenotrettung. Das ist zwar alles auch drin im Programm, aber im Vordergrund stehen klar die Menschen, die nicht ohnehin zuverlässig ihr Kreuz bei der Umweltpartei machen.

Argumentationshilfen auch Peking und Washington

An Vorschlägen zu Themen, die fast alle angehen, mangelt es nicht: Die Partei wirbt für eine Infrastrukturunion, die die Stromnetze und Anstrengungen beim Ausbau der Erneuerbare Energien zusammenführt. Europa soll Geld in die eigene Widerstandsfähigkeit sowie in Zukunftsbranchen pumpen. "Wir können uns Investitionsstillstand nicht leisten", sagt Nouripour. Eine Größenordnung, wie viel Geld die 27 Mitgliedstaaten dafür aufwenden sollen, könne er aber noch nicht nennen. Es wird ohnehin schwer für die Grünen, im kommenden EU-Parlament mitzureden. Konservative, rechtspopulistische und nationalistische Parteien sind europaweit im Aufwind. Grüne, Sozialdemokraten und linkere Parteien dürften 2024 in Brüssel und Straßburg an Einfluss verlieren.

Ein weiteres Vorhaben: Die Grünen fordern eine europäische Plattform für Bahnreisen durch die gesamte Union. "Ein transparentes, verbraucherfreundliches und übergreifendes Ticketing-System", sei das Ziel, sagt Lang. "Wir wollen, dass es die eine Plattform gibt, wo man sich ein Ticket kaufen kann, wenn man von Berlin nach Madrid will oder eben nach Vilnius fährt", sagt Nouripour. Beide fühlen sich durch den Erfolg des 49-Euro-Tickets in Deutschland bestärkt und hoffen langfristig auch EU-länderübergreifend auf eine Art Flatrate-Tarif. Sogar die Sorgen von Fluggästen adressiert die Klimaschutzpartei.

Eine heikle Kehrtwende

Die Erzählung vom grünen Wirtschaftswachstum ist wie seit Jahren schon zentral im Wahlprogramm der Partei. Während die Menschen in Deutschland die Folgen der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und die Kosten der - trotz allen Bemühungen - langsamen Umstellung auf Erneuerbare Energien meist als Zumutung erleben, liefern die USA und China mit ihren Milliardensubventionen für Erneuerbare Energien den Grünen Argumente von vor wenigen Jahren noch unerwarteter Seite: Wenn Europa jetzt nicht in grüne Zukunftstechnologien investiere, werde es wirtschaftlich erst recht abgehängt, so der Tenor des grünen Wahlprogamms.

Im Gegenzug ist die Partei - oder zumindest ihre Spitze - bereit, selbst einen Schritt auf die Fürsprecher eines technologischen Ansatzes im Umgang mit der Klimakrise zuzugehen: "In einigen wenigen Branchen wird es aber auch in Zukunft Emissionen geben, die schwer oder nach heutigem Stand der Technologie gar nicht zu vermeiden sind, etwa in der Zementindustrie", heißt es im Wahlprogramm. "In diesen Bereichen wollen wir technologische Chancen nutzen und das CO2 direkt bei der Produktion abscheiden, speichern und gegebenenfalls nutzen. Wo nötig, soll dies aktiv gefördert werden."

Bislang lehnten die Grünen die Speicherung von CO2 (Carbon Capture Storage) in geeigneten Erdschichten strikt ab. Global hat sich dagegen die Ansicht durchgesetzt, dass die Ziele zur Emissionsreduktion ohne den Einsatz neuer Technologien nicht zu erreichen seien und mit Robert Habeck ist es einer der prominentesten Grünen, der in den eigenen Reihen ein Umdenken fordert. Der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz hatte sich bereits in Norwegen das neue Werk einer Tochterfirma von Heidelberg Materials angeschaut, das auf CCS setzt. Habeck will nicht nur qua Amt die Dekarbonisierung mit einer Re-Industrialisierung Deutschlands verknüpfen, auch wenn der Trend derzeit eher gegenläufig ist.

In der Partei dürfte der Vorschlag einmal mehr die Gemüter spalten: Lang, die den linken Flügel der Partei repräsentiert, nennt die Debatte "eine verdammt schwierige Frage", verweist aber auf den Weltklimarat, der sich für die Nutzung dieser Technologie ausgesprochen hat. Grünen-Klimapolitikerin Lisa Badum formulierte auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa vorsichtige Kritik: "Es ist besser, das CO2 im Boden zu lassen, als es mit großem Aufwand und viel Geld wieder in den Boden zu verpressen. Bevor wir die Menge des verbrannten Mülls nicht halbiert oder eine echte Bauwende eingeleitet haben, brauchen wir nicht über CCS in der Abfallverbrennung oder der Zementbranche reden." Priorität müsse die Dekarbonisierung haben anstatt auf teure Technologien zu setzen.

Nicht zurück in die "Nische"

Das Thema ist damit prädestiniert, bei der Bundesdelegiertenkonferenz Ende November in Karlsruhe Widerspruch zu provozieren. Auf dem viertägigen Parteitag werden nicht nur die Parteivorstände und die Kandidaten der grünen Europawahlliste gewählt, sondern auch das Wahlprogramm festgezurrt. Neben der CO2-Speicherung dürften auch Flucht, Migration und Seenotrettung die Basis bewegen. Bei der Europawahl 2019 hatte das Thema in einem fast doppelt so langen Programm den dreifachen Raum eingenommen und sich im Herzen des Textes wiedergefunden. Im neuen Entwurf dagegen finden sich zum Thema gerade einmal drei Seiten kurz vor Schluss.

Nachdem sich die Grünen beim kleinen Parteitag im Frühjahr in Bad Vilbel über den europäischen Asylkompromiss gezofft hatten und die allgemeine Stimmung im Land eher auf eine Begrenzung der Migration setzt, wollen die Grünen im kommenden Jahr nicht zuallererst als Anwälte von Geflüchteten-Rechte in den Wahlkampf ziehen - dem einzigen Wahlkampf in 2024, der einigermaßen Erfolg bringen könnte, während bei den drei Landtagswahlen im Osten Verluste und ein massiver Zugewinn der selbst erklärten Grünen-Gegner von der AfD zu erwarten sind.

Riefen die Grünen 2019 noch in der Präambel ihres Programms zum Kampf gegen Nationalismus und immigrantenfeindlicher Stimmungsmache auf, heißt es nun einleitend über den Wahltag 9. Juni 2024: "Es geht um nicht weniger als unseren Frieden und Wohlstand." Die darauffolgende Argumentation, welche Rolle die EU für Deutschlands Wohlergehen spiele, ist im Ton mindestens so staatstragend wie die Farbe "Tanne".

In Bad Vilbel hatte Habeck seine Partei noch leidenschaftlich dazu aufgerufen, angesichts des scharfen Gegenwinds für die Partei sich nicht zurück in die "Nische" und in alte Grabenkämpfe drängen zu lassen. Potenzielle Angriffsflächen der politischen Gegner, die Grünen weiter als Verbotspartei darzustellen, vermeidet das Programm erkennbar. Die Europawahl ist mit dieser Strategie auch ein Testballon für die Bundestagswahl ein Jahr später. Beide Wahlen wird die Parteiführung von Lang, Nouripour und Büning, die sich voraussichtlich im November wiederwählen lassen, managen. In neun Monaten wissen die drei, wo sie mit ihrem Ansatz einer breiten Volkspartei der Mitte stehen.

Quelle: ntv.de

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