"Meine liebe kleine Genossin" Honecker schrieb aus U-Haft an Verehrerin
27.07.2017, 08:48 Uhr
Erich Honecker sitzt 1992 in einem Berliner Gefängnis - und wartet auf seinen Prozess.
(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)
Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung sitzt der einstige DDR-Staatschef Erich Honecker in einem Untersuchungsgefängnis in Moabit. Er soll sich in einem Prozess für die Mauertoten verantworten. In der Haft erlebt der betagte Politiker jedoch einen zweiten Frühling.
Vor 25 Jahren, am 29. Juli 1992, wird Honecker nach langem diplomatischem Tauziehen von seiner letzten Fluchtstation Moskau nach Deutschland geflogen, wo er in Berlin sofort in U-Haft kommt. Doch in dem als historisch eingestuften Prozess wegen der tödlichen Schüsse auf DDR-Flüchtlinge gegen sechs frühere SED-Funktionäre kommt es nicht mehr zu einer Bewertung der Rolle Honeckers. Anfang 1993 wird der Prozess gegen den einstigen DDR-Staats- und SED-Parteichef wegen seiner Krebserkrankung eingestellt. Er reist zu seiner Frau Margot ins chilenische Exil, wo er am 29. Mai 1994 im Alter von 81 Jahren stirbt.
Jetzt ist ein Buch erschienen, das Honeckers Zeit in U-Haft beleuchtet und eine neue Seite des DDR-Politfunktionärs zeigt. Es entstand aus dem intensiven Briefwechsel Honeckers mit der westdeutschen Lehrerin Eva Ruppert, die ihm "geistige Nahrung" ins Untersuchungsgefängnis Moabit schickte. So las der spröde Honecker hinter Gittern etwa den Bestseller "Fegefeuer der Eitelkeiten" von Tom Wolfe und hörte die Musik des Barockkomponisten Antonio Vivaldi. Ruppert bezeichnete er als "liebe Genossin" aus dem Westen. Seine Briefe begann er stets mit "Liebe Eva" - und so lautet auch der Titel des nun erschienenen Buches.
Ruppert, sagt Verleger Frank Schumann, habe den einstigen Staatsmann erstmals zu dessen 80. Geburtstag im Gefängnis Moabit besucht, es habe sich eine intensive Korrespondenz entwickelt. Die Lehrerin habe sogar ein Solidaritätskomitee für Honecker mit gegründet. Erst vor kurzem habe die heute 84-Jährige dem Verlag Edition Ost dann ihre Briefe übergeben.
Im Jogginganzug Haltung bewahrt
Ihre erste Begegnung beschreibt Ruppert in dem Buch als Dialog mit wechselseitiger Sympathie: Honecker sei wesentlich kleiner gewesen als er im Fernsehen wirkte, habe aber selbst im Jogginganzug Haltung bewahrt. "Er hat mich stets beeindruckt." Die DDR sei die größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung gewesen, sie habe nur positive Eindrücke gehabt, schreibt Ruppert. "Für mich war Honecker die DDR." Der Ton in den Briefen wurde über die Monate immer vertrauter. "Lass Dich umarmen, Erich", unterzeichnete Honecker den Brief vom 5. September 1992 oder schrieb "meine liebe kleine Genossin".
Verleger Schumann meint, wären sie Teenager gewesen, hätten sie sich wohl verknallt. Aber beide hätten ein langes Berufsleben hinter sich und Familie gehabt. Nach Ansicht des Verlages sind die Briefe Dokumente mit zeitgeschichtlicher Bedeutung, denn sie zeigten das Innenleben Honeckers während der 169 Tage dauernden Haft; nirgendwo anders habe er seine Gefühle so offenbart wie in diesen Briefen.
Honecker offenbart Krebsleiden
Es gibt aber auch andere Dokumente aus dem letzten Lebensabschnitt des DDR-Politikers. 2012 kam "Letzte Aufzeichnungen" heraus, das Honecker ebenfalls in der U-Haft schrieb. In dem Gefängnis-Tagebuch notiert er, der Prozess gegen ihn sei Rache und Fortsetzung des Kalten Krieges. Die DDR habe keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Und die Maueropfer? "Dass an der Grenze geschossen wurde, war nichts Besonderes. An fast allen Grenzen wird geschossen, wenn diese verletzt werden", so Honecker. "Wir haben mit der DDR gezeigt, dass Sozialismus möglich ist. Das wird bleiben."
In dem Brief an Ruppert offenbart Honecker am 5. Oktober 1992 mehr Persönliches: "So ist es, liebe Eva, alles kann man mit eisernem Willen doch nicht bezwingen - den Krebs, der in mein Leben eingreift, schon gar nicht. Wenn ich ein Christ wäre, würde ich sagen: alles andere liegt bei Gott." Honecker sammelt die Antworten in einem Hefter und bekennt: "Deine Briefe bereichern meine Gedanken und Gefühle." Oder ein anderes Mal: "Liebe compañera, ich habe jede Zeile Deines Briefes in mich aufgenommen."
Ein letzter Brief von Witwe Margot
Honecker beklagt in den Briefen auch, dass er durch seine Krankheit und Schwäche im Prozess die DDR nicht verteidigen könne. Er habe dem Sozialismus gedient - "dem schönsten Abschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte", schreibt er an die Lehrerin an einem Gymnasium in Bad Homburg. Am 8. November 1992 lässt Honecker seine Brieffreundin wissen: Er habe dafür gekämpft, dass es den anderen besser geht. "Das, so denke ich, ist doch unsere bleibende Idee."
Nach dem Tod Honeckers korrespondierte Witwe Margot weiter mit der Genossin im fernen Deutschland. Am 13. Dezember 2015 notierte die einstige DDR-Ministerin für Volksbildung in Santiago de Chile: "Dieses verfaulende imperialistische System kommt ohne Kriege nicht aus... Und Deutschland ist natürlich wieder ganz vorn mit dabei... Wann endlich wird der deutsche Michel begreifen, was mit ihm gespielt wird? Aufklärung tut not." Es war ihr letzter Brief an Eva Ruppert, im Mai 2016 starb die 89-Jährige.
Quelle: ntv.de, Jutta Schütz, dpa