Versteckter Vormarsch auf Bagdad Islamisten nutzen Saddams Tunnel
12.08.2014, 18:30 Uhr
Islamisten feiern die Einnahme eines Militärstützpunktes in der Provinz Ninive.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Die Milizen des Islamischen Staates agieren vor allem im Nordirak. Doch sie rücken auch von Süden gegen die Hauptstadt Bagdad vor. Als Verstecke nutzen sie dabei Anlagen aus der Zeit von Saddam Hussein. Viele Menschen fliehen auch hier vor den Extremisten.
Ein Land im Krieg, eine Stadt wappnet sich gegen einen Angriff. Doch der Feind naht nicht nur von einer Seite. Während die Milizen des Islamischen Staates (IS) von Norden vorrücken, schleichen sich Kämpfer auch unbemerkt von Süden an. Durch Tunnel verlegen sie Waffen und Ausrüstung, in den Feldern der Umgebung finden sie Sichtschutz vor den patrouillierenden Hubschraubern. Sie kommen der Hauptstadt Bagdad immer näher.
Während sich alle Blicke auf den rasanten Vormarsch der Extremisten-Organisation von Norden richten, warnen irakische Geheimdienstler und Militärs vor der Gefahr aus dem Süden. Aus dem Euphrat-Tal knapp südlich der Hauptstadt seien die Islamisten bereits gefährlich nahe an Bagdad herangerückt. Dazu nutzen sie die Tunnel, die bereits von Saddam Hussein gebaut wurden. Dort sind die Rebellen vor den Augen der Sicherheitskräfte verborgen.
"Dreieck des Todes" hieß die Gegend bei den US-Truppen wegen des erbitterten Widerstands von Al-Kaida während des Irakkrieges. Die Region bot schon damals ideale Verstecke für Untergrundkämpfer. Die Bewohner der Region betreiben Ackerbau, satte grüne Felder werden von Bewässerungsgräben durchzogen. Entlang des Flusses Tigris bietet die dichte Vegetation Schutz. Die Bevölkerung setzt sich aus Sunniten und Schiiten zusammen. In der Besatzungszeit war es eine der gefährlichsten, am härtesten umkämpften Regionen des Landes. Heute bietet das Gebiet den Islamisten auf dem Vormarsch in Richtung Bagdad gute Deckung.
In Bagdad droht ein Häuserkampf
"Wir haben der Regierung gesagt, dass ein Militäreinsatz hier dringend nötig ist, um die Eroberung weiterer Orte südlich von Bagdad durch den IS zu verhindern. Andernfalls stehen sie sehr kurz vor der Hauptstadt", sagt Falah al-Radhi vom Provinzrat in Hilla, der Region südlich von Bagdad. Bereits seit einigen Wochen verlegen die sunnitischen Aufständischen Kämpfer, Waffen und Nachschub aus ihren Hochburgen im Westen des Landes durch geheime Wüstentunnel in die Stadt Dschurf al-Sachar etwa 60 Kilometer südlich der Hauptstadt.

Kämpfer des IS haben im Nordirak einen einst von Kurden kontrollierten Checkpoint erobert.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Saddam ließ die Tunnel in den 90er Jahren bauen, um darin Waffen vor den Inspektoren der Vereinten Nationen zu verbergen. Für die Islamisten sind sie ideale Verstecke, um von den Militärhubschraubern der Armee nicht entdeckt zu werden. Die Kämpfer haben die Städte Falludscha und Teile von Ramadi besetzt, wo Al-Kaida schon früher den US-Truppen hartnäckig Widerstand leistete. Von einem Gelände in der Nähe einer Militäreinrichtung, die Saddams Soldaten einst nutzten, gelangen sie in die Tunnel. "Das macht es für uns unmöglich, die Gegend unter Kontrolle zu bringen", sagt ein Geheimdienstler mit Blick auf Dschurf al-Sachar und die Städte unmittelbar südlich von Bagdad.
Im Norden war die irakische Armee im Juni unter dem Ansturm der islamistischen Kämpfer praktisch zusammengebrochen. IS nahm die Städte Mossul und Tikrit sowie eine Reihe anderer Orte ein. Die Gruppe kontrolliert auch weite Gebiete im Westen des Landes und hat den Marsch auf Bagdad angekündigt.
Die Einnahme der Hauptstadt dürfte den Islamisten allerdings schwerer fallen als ihre bisherigen Eroberungen: Die Stadt beherbergt Tausende Elitesoldaten und schiitische Milizen mit vielen Kämpfern. Sollte IS allerdings Städte im Süden Bagdads unter Kontrolle bringen, würde dies der Organisation Selbstmordattentate und Autobombenanschläge in der Hauptstadt erleichtern. Möglicherweise droht sogar ein neuer, erbitterter Häuserkampf wie 2006 und 2007, als sunnitische und schiitische Milizen sich Straßenzug um Straßenzug bekämpften.
Taktik der verbrannten Erde

Das Bild zeigt IS-Kämpfer in Syrien. Doch auch im Irak haben sie bereits weite Gebiete erobert - sie nähern sich auch von Süden der Hauptstadt Bagdad.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Ende Juli seien 400 IS-Kämpfer bei Dschurf al-Sachar eingetroffen, um die Stadt am Ufer des Euphrat anzugreifen, berichtet ein hochrangiger Beamter in der Provinzhauptstadt Hilla. Über 200 Granaten seien auf die Stadt abgefeuert worden. Außerdem hätten die Islamisten Selbstmordattentate mit gekaperten Fahrzeugen des US-Militärs verübt. Sie hätten es schließlich geschafft, mehrere Polizeiwachen und das Rathaus einzunehmen.
Sechs islamistische Kämpfer seien gefangen genommen worden. Bei der Vernehmung hätten sie erklärt, die Aufständischen wollten neue Fronten in den nahegelegenen Städten Mussajab, Jusufija und Dschbala eröffnen, sagt der Beamte.
Die Armee ringt unterdessen verzweifelt darum, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie hat damit begonnen, sogenannte Fassbomben abzuwerfen, Fässer gefüllt mit Spreng- oder Treibstoff. "Die IS-Kämpfer haben die Stadt gestürmt und die Sicherheitskräfte vertrieben. Um die Kontrolle wiederzugewinnen, müssen wir uns nun um etwa 40 Quadratkilometer Ackerfläche kümmern", sagt ein Oberst. "Wir haben mit einer Taktik der verbrannten Erde begonnen. Wir wissen, dass das hart ist. Aber die Armee-Hubschrauber müssen freie Sicht haben, um die Kämpfer zu verfolgen und vernichten." Also sieht sich die Armee gezwungen, Wälder und die Ackerflächen der ansässigen Bauern niederzubrennen, um den islamistischen Kämpfern die Deckung zu nehmen.
Regierungsvertreter befürchten, dass die Islamisten bei einem weiteren Vorrücken die Kontrolle über wichtige Straßenverbindungen zwischen Bagdad und den Städten im Herzen des schiitischen Siedlungsgebietes im Süden erringen könnten. Mit Nadschaf und Kerbela liegen zwei der Heiligen Städte der Schiiten in der Region, und IS hat diese zu ihrem Ziel erklärt. Viele schiitische Familien in der Gegend wollen es nicht darauf ankommen lassen. Hunderte sind bereits geflohen, da die Islamisten keinen Zweifel an ihren Absichten lassen.
"Es war ein schrecklicher Tag, als ich die bedrohlichen Flugblätter mit dem Symbol des Islamischen Staates gesehen habe: 'Verlass Dein Haus, sonst schlachten wir jeden, den wir erwischen'", zitiert Kadhum al-Jasiri aus dem Flugblatt der Islamisten. Der Schiite flüchtete und ließ seine Fischzucht, mit der er über Jahre seinen Lebensunterhalt bestritten hatte, zurück. Er befürchtete, seine Frau und vier Söhne könnten von den Islamisten gefangen und enthauptet werden. "Binnen einer Stunde haben wir unser Haus in Dschurf al-Sachar verlassen", berichtet er. "Aber die entsetzliche Angst vor einer Enthauptung hat erst aufgehört, als wir eine sichere Zuflucht gefunden hatten".
Quelle: ntv.de, Michael Georgy und Ahmed Rasheed, rts