Ägypten zwischen Revolution und Manipulation "Kräfte des alten Regimes unterschätzt"
19.06.2012, 17:38 Uhr
Der Militärrat, eine elitäre Oberschicht in der Armee, hat die Verfassung zu seinen Gunsten zurechtgebogen.
(Foto: dpa)
Der arabische Frühling in Ägypten nimmt mit der Machtübernahme des Militärs ein bitteres Ende: Der neue Präsident wird nicht viel Macht haben, das Parlament ist aufgelöst. Die Frankfurter Nahostexpertin Irene Weipert-Fenner erklärt im Gespräch mit n-tv.de, wieviel Macht der Oberste Militärrat jetzt hat und welche Tricks dazu geführt haben.
n-tv.de: An diesem Mittwoch soll das Endergebnis bekanntgegeben werden, wer wird. Aber spielt das überhaupt noch eine Rolle, nachdem der Oberste Militärrat sich beinahe alle Macht gesichert hat?
Irene Weipert-Fenner: Es spielt insofern eine Rolle, als es entscheidend dafür sein wird, in welche Richtung der Militärrat den weiteren Prozess manipuliert. Ich denke, mit dem ehemaligen Regime-Politiker Ahmad Schafik werden die Generäle sich im bestehenden Rahmen arrangieren. Wenn es der Muslimbruder Mohammed Mursi wird, wird man versuchen, das Präsidentenamt weiter zu schwächen, wie in den aktuellen Verfassungsänderungen vorgesehen.

Die soziale Frage ist nach der Revolution ungelöst. Am ehesten trauen viele Ägypter der Muslimbruderschaft zu, sie zu lösen.
(Foto: AP)
Der künftige Präsident wird kaum noch Machtbefugnisse haben, das gewählte Parlament ist aufgelöst. Wie soll das weitergehen?
Die Chancen stehen schlecht, dass die kürzlich vom Parlament einberufene Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit aufnehmen kann. Stattdessen wird die Armee dafür selbst eine Kommission einsetzen. Danach soll es wieder, wie 2011, ein Referendum geben, diesmal jedoch über eine komplett neue Konstitution. Einen Monat später soll ein neues Parlament gewählt werden. Man darf gespannt sein, ob diese Wahlen wieder relativ frei ablaufen, wenn die Armee ihre Privilegien bereits abgesichert haben wird.
Kann man da von einem großen Masterplan des Militärrates sprechen? Es sieht ja so aus, als hätten die Generäle nur auf das hingearbeitet, was jetzt passiert ist.
Von einem großen Plan zu sprechen, den die Generäle nur auszuführen brauchen, wäre sicherlich zuviel gesagt. Dafür hat der Militärrat selbst schon zu viele Rückschläge erlebt, wie beispielsweise letzten Herbst. Da wurde schon einmal versucht, sich konstitutionell Vorrechte abzusichern, was nach sich zog. Was aber sicher gewollt war und nun geschickt genutzt wird, ist die latente Rechtsunsicherheit, die zu einem großen Spielraum für Manipulation führt.
Wie stellen die Generäle das an?
Gesetze werden bewusst vage gehalten, oder wie beim Parlamentswahlgesetz potenziell verfassungswidrig konstruiert – um sie im passenden Moment für ungültig zu erklären und beispielsweise das Parlament aufzulösen. Diese Strategien zur Herrschaftssicherung kennen wir schon vom Mubarak-Regime, und es scheint, je mehr Erfolg die Islamisten bei den Wahlen haben, umso mehr tun sich die Profiteure des alten Regimes wieder zusammen und nutzen altbekannte Taktiken.
Auf wessen Seite steht die ägyptische Justiz?

Sicherheitskräfte versperren den Weg zum Parlament in Kairo. Die Abgeordneten hatten angekündigt, die Auslösung des Parlaments nicht zu akzeptieren.
(Foto: dpa)
Richter genießen in der Gesellschaft generell ein hohes Ansehen. Sie haben schon immer viele unabhängige Urteile gesprochen, die, wenn sie der politischen Elite nicht genehm waren, einfach nicht implementiert wurden. Es gab jedoch auch immer rote Linien, die keiner übertreten hat. Man kann aber nicht sagen, dass die Gerichtsbarkeit komplett korrupt ist. So ist die Entscheidung von letzter Woche, das Wahlgesetz für verfassungswidrig zu erklären, an sich nicht notwendigerweise manipuliert. Der Zeitpunkt jedoch lässt stark vermuten, dass es eine gewisse Einflussnahme durch den Militärrat gab. Denn warum hat man das Wahlgesetz nicht einfach vor den Wahlen geprüft?
Haben sich die anderen staatlichen Institutionen seit dem Sturz Mubaraks erneuert?
Es gab direkt nach der Revolution eine Menge Kampagnen, um die Mubarak-Leute loszuwerden. Aber selbst bei der Staatssicherheit, die schnell aufgelöst wurde, gibt es eine hohe personelle Kontinuität, die die Überwachung nun unter anderem Namen fortführt. Der komplette Bruch mit dem alten Regime ist jedoch sowieso ein Revolutionsmythos. Gegen etablierte, vor allem informelle Machtstrukturen, kommen neue Institutionen wie das im Winter gewählte Parlament nur schwer an, zumal immer noch nicht klar ist, welche Kompetenzen sie haben - aufgrund der fehlenden Verfassung.
Waren die Leute in Ägypten zu naiv nach der Revolution?
Man hat sicher die Kräfte unterschätzt, die im alten Regime jenseits des Mubarak-Clans steckten. Doch genau davon war ja das ganze vergangene Jahr geprägt: Vom großen politischen Kampf um die Neugestaltung Ägyptens. Der wurde bei uns nur zu wenig wahrgenommen. Nun hat die Armee diesen unglaublichen Zeitpunkt genommen, um wieder zu versuchen, ihre Privilegien dauerhaft zu sichern. Deshalb sprechen viele Kommentatoren von einem . Andere dagegen sagen: Was habt ihr denn erwartet, wir müssen eben weiterkämpfen, es ist noch nicht vorbei.
Nach der Revolution ist für viele Ägypter auch wieder Alltag eingekehrt, sie müssen sich ihr tägliches Brot verdienen, haben keine Zeit, jeden Tag die Revolution fortzuführen. Wer kämpft jetzt eigentlich noch?

Irene Weiper-Fenner forscht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zu Autoritarismus, Parlamentarismus und Herrschaftsbildung in Ägypten.
(Foto: privat)
Neben den bekannten Gruppen wie Islamisten und der sogenannten Facebook-Jugend spielt auch die Arbeiterbewegung eine Rolle, die vor allem rund um die oft vergessene soziale Frage mobilisiert. Sie hat sich inzwischen lose mit einigen linken Gruppierungen zusammengetan, die jedoch genauso wie die Revolutionsjugend bisher keine politischen Ergebnisse produziert hat. Dennoch sind diese Gruppen Teil des großen Aushandlungsprozesses über die Zukunft Ägyptens.
Gerade während der ersten Runde der Präsidentenwahl schien die ägyptische Gesellschaft aber sehr polarisiert zwischen islamistischen und säkularen Kandidaten. Die dritte Seite kam nicht so sehr zum Vorschein.
Die Arbeiterbewegung hat eine lange Tradition, die bis in das 19. Jahrhundert reicht. Aber besonders unter Mubarak wurde sie isoliert und unterdrückt, sodass viele Ägypter sie heute gar nicht als weiteren Akteur im Kopf haben. Die Muslimbrüder können dagegen aufgrund ihres jahrzehntelangen sozialen und politischen Engagements sehr viel besser mobilisieren. Dies führte zur Hauptkonfliktlinie zwischen islamistischen und säkularen Anhängern, die die soziale Frage stark überlagerte. Bei der Stichwahl um die Präsidentschaft war diese dritte Seite der ägyptischen Bevölkerung nicht mehr vertreten, sondern es ging um die Entscheidung zwischen einem Ex-Regime-Vertreter und einem Muslimbruder, und damit für viele Wähler aber auch nur noch um die Frage nach dem kleinerem Übel.
Warum rückt die soziale Seite der Revolution, die ja für das konkrete Leben der Menschen viel entscheidender ist, immer wieder in den Hintergrund?
Man hat sich zu sehr auf den politischen Prozess eingeschossen. Die institutionelle Seite hat das letzte Jahr ja auch dominiert. Die anderen harten Fragen nach Umverteilung, der richtigen Wirtschaftsform und sozialer Gerechtigkeit waren nicht auf dem Tisch. Diese Fragen kamen jetzt bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auf. Diejenigen, die solche Forderungen stellen, sind nach wie vor laut, auch die Jugendbewegung. Aber wegen des Treibens des Militärrates sind jetzt schon wieder die institutionellen Fragen in den Vordergrund gerückt.
Könnte der Konflikt von der politischen Ebene auf die Gesellschaft übergehen oder halten die Ägypter zusammen?
Große Teile der Bevölkerung sind sehr frustriert. Mit dem ständigen Zustand der Unsicherheit haben sich viele Ägypter von der Revolution entfremdet. Die Kleinkriminalität ist gestiegen, und die Lebensbedingungen haben sich für die meisten nicht verbessert. Dies birgt große Risiken für die Revolution, da die Instabilität zum Ruf nach einem starken Mann führen kann. Wenn der Preis für die Veränderung zu hoch ist, wollen manche sogar wieder zur alten Ordnung zurück. Dies gilt es jedoch in jedem Fall zu verhindern.
Mit Irene Weipert-Fenner sprach Nora Schareika
Quelle: ntv.de