"Versagen auf der ganzen Linie" Opposition rechnet ab
04.02.2010, 13:54 Uhr
"Mangelhaft minus": Steinmeier diagnostiziert den Fehlstart von Schwarz-Gelb.
(Foto: REUTERS)
Nach 100 Tagen rechnet die Opposition mit der schwarz-gelben Bundesregierung ab: SPD und Grüne werfen Union und FDP "Versagen auf der ganzen Linie" und "Geschenke für die Klientel" vor - die Regierung werde die vier Jahre nicht durchhalten. Auch aus den eigenen Reihen wird Kritik am Erscheinungsbild der Koalition laut, FDP-Chef Westerwelle hält lautstark dagegen.
Die Opposition im Bundestag nutzt die Bilanz der ersten 100 Tage der schwarz-gelben Regierungskoalition zu einer grundsätzlichen Abrechnung mit der Politik von Union und FDP. Doch auch aus den eigenen Reihen kommt Kritik am Erscheinungsbild der christlich-liberalen Regierung.
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier bescheinigte der Koalition einen katastrophalen Start. "Das war kein Fehlstart einer Bundesregierung, das war Versagen auf der ganzen Linie", sagte Steinmeier. "Was die Schulnote angeht, müssen wir zu einem eindeutigen 'mangelhaft' kommen, 'mangelhaft minus'."
Union und FDP hätten keinen Kurs, keinen Kompass, im Koalitionsvertrag fehlten Entscheidungen. "Deshalb wird diese Koalition politisch scheitern." Steinmeier warf Kanzlerin Angela Merkel Zaudern vor. "Weil es auch an einer Kanzlerin fehlt, die diese Entscheidung innerhalb der Regierung vorgibt." Tempo habe die Koalition nur bei ihren Neustarts hingelegt.
"Weniger Netto vom Brutto"
Der SPD-Fraktionschef rechnet mit großen Einschnitten wegen der geplanten Steuersenkungen und der Gesundheitsreform. "Es wird weniger Netto vom Brutto sein." Steinmeier griff Gesundheitsminister Phillip Rösler scharf an. Röslers Konzept für einen Pauschalbeitrag zur Krankenversicherung sei "ein wirklicher Sprengsatz". Arbeitnehmern und Rentnern würden die Kosten für das Gesundheitssystem aufgebürdet.
Steinmeier hielt der Koalition zudem Klientelpolitik wegen der bereits beschlossenen Steuerentlastungen auch für das Hotelgewerbe vor. Angesichts des Rückziehers von Nordrhein-Westfalen, das sich für eine Aussetzung des Mehrwertsteuer-Bonus stark gemacht hatte, sagte Steinmeier: "Diese Koalition ist schon auf der Flucht vor sich selbst."
Ähnlich äußerte sich die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. "100 Tage Schwarz-Gelb – 100 Tage Geschenke für die Klientel von Schwarz-Gelb", sagte Nahles bei n-tv. Sie warf Merkel vor, mit ihrem Versprechen von mehr Netto vom Brutto die Wähler zu täuschen. Angesichts der Rekordverschuldung und weiterer Steuerentlastungen höre man bereits von einer Steigerung beim Arbeitslosenbeitrag, von erhöhten Gebühren und dass die Kommunen und damit die Bürger am Ende die Rechnung bezahlen müssten, weil Schwimmbäder oder Stadtteilbibliothek geschlossen werden müssten. "Das heißt also, die Netto-Versprechen, [...] entpuppen sich zunehmend als Netto-Lüge", kritisierte Nahles.
"Wird nicht halten"
Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Renate Künast, warf der Regierung von Bundeskanzlerin Merkel vor, ziel- und konzeptionslos gestartet zu sein. "Besser als 'mangelhaft' kriegt sie von mir nicht", sagte Künast bei n-tv. Alle wichtigen Entscheidungen – ob Energiepolitik, Gesundheitspolitik oder Bildungspolitik – seien verschoben worden. "So wie sie heute agiert, wird sie nicht vier Jahre lang halten und das kann man diesem Land im Übrigen im wahrsten Sinne des Wortes auch nicht wünschen", sagte die Fraktionschefin.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe räumte in einer 100-Tage-Bilanz Probleme ein und rief die Koalitionspolitiker zu mehr Disziplin auf. "Wir haben bisher gute Entscheidungen getroffen, die Deutschland weiterbringen", sagte Gröhe der "Berliner Zeitung". "Aber die Kommunikation nach außen ist durchaus noch verbesserungswürdig", räumte er ein.
"Es ist wahr: Es wird zu viel unnütz gestritten", sagte Gröhe bei n-tv. Wahr sei auch, dass mancher bei der FDP übertriebene Vorstellungen gehabt habe, was Entlastungsspielräume angehe. Aber gerade seien die Familien massiv entlastet worden und es habe die höchste Kindergelderhöhung seit langem gegeben. Zudem werde den Unternehmen geholfen, Jobs zu halten. "Wenn wir alle so reden, wie die Ergebnisse sind, steigt auch wieder die Stimmung", erklärte Gröhe.
Koalition verspricht Besserung
Die Fraktionschefs Volker Kauder (CDU/CSU), Birgit Homburger (FDP) und CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich wiesen die Kritik der Opposition zurück und kündigten Schritte für mehr Wirtschaftswachstum an. "Bereits in den nächsten Monaten" seien weitere Maßnahmen geplant, schrieben sie in einer gemeinsamen Erklärung. Es gehe um Bürokratieabbau, das Elektroautoprogramm und Internetausbau. Für mehr Zuverdienstmöglichkeiten von Hartz-IV-Empfängern sollten bis Ende Juni Vorschläge vorliegen. Trotz der Wirtschaftskrise habe man es geschafft, den Anstieg der Arbeitslosigkeit so stark zu begrenzen wie in keinem anderen hochentwickelten Land.
FDP-Chef Guido Westerwelle will sich von der Kritik nicht beirren lassen. Er rechnet damit, dass die Koalition in nächster Zeit noch stärker unter Druck gerät. "Der Wind wird noch an Schärfe zunehmen", schrieb er in einem Brief an alle Parteimitglieder. Darin zog der Vizekanzler ungeachtet aller Kritik eine positive 100-Tage-Bilanz der Regierungsarbeit. "Trotz aller Anfangsschwierigkeiten stimmen die Ergebnisse", schrieb er. Niemand könne erwarten, "dass wir in den ersten 100 Tagen alles umdrehen können, was in 11 Jahren falsch gelaufen ist".
Westerwelle hält dagegen
Westerwelle versprach, er werde sich von der Kritik aus der Opposition und von Verbänden nicht beeindrucken lassen. "Klarheit im Kurs und Klarheit in der Aussprache werden auch weiterhin meine Markenzeichen sein." Als Ziel für die im Mai anstehende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gab der FDP-Chef eine deutliche Verbesserung des Ergebnisses von 6,2 Prozent vor fünf Jahren aus.
Top-Manager sind nach einer Umfrage im Auftrag des "Handelsblatts" und einer Unternehmensberatung mit dem Start von Schwarz-Gelb unzufrieden. Sie geben der Bundesregierung nach der Umfrage des Marktforschungsunternehmens Psephos unter mehr als 700 Spitzenmanagern auf einer Skala von eins (sehr gut) bis fünf (sehr schlecht) die Durchschnittsnote 3,2. Das sei die schlechteste Beurteilung einer Bundesregierung seit November 2006, als die Manager die damalige große Koalition mit 3,5 bewertet hätten.
Quelle: ntv.de, tis/dpa/AFP