Politik

Atemlose Tage in der Ukraine Parlamentschef wird Übergangspräsident

Turtschinow ist ein Vertrauter Timoschenkos.

Turtschinow ist ein Vertrauter Timoschenkos.

(Foto: imago stock&people)

Der Umbruch in der Ukraine schreitet rasant voran. Das Parlament in Kiew bestimmt nun seinen neuen Chef Turtschinow zum Übergangspräsidenten. Vor allem eine Politikerin dürfte das freuen.

Das ukrainische Parlament hat seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten bestimmt. Die Abgeordneten votierten dafür, die Vollmachten des Staatsoberhaupts vorübergehend auf ihn zu übertragen. Turtschinow gilt als Vertrauter der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Der 49-Jährige hatte einst gemeinsam mit Timoschenko die Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) gegründet.

Die Oberste Rada hatte am Vortag den bisherigen Staatschef Viktor Janukowitsch für abgesetzt erklärt und Neuwahlen für den 25. Mai angesetzt. Dann will auch die aus der Haft entlassene Timoschenko kandidieren. Janukowitsch hat bisher nicht seinen Rücktritt erklärt.

In einem nächsten Schritt will das Parlament eine Übergangsregierung bestimmen. Turtschinow hatte die Abgeordneten dazu aufgefordert, sich bis Dienstag auf ein "Kabinett des nationalen Vertrauens" zu einigen. Das Parlament enthob außerdem Außenminister Leonid Koschara des Amtes, einen engen Vertrauten des abgesetzten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Ein Nachfolger wurde noch nicht gewählt.

Der neue Innenminister Arsen Awakow teilte mit, er habe interne Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs gegen 30 Mitglieder seiner Behörde einleiten lassen. Dabei gehe es um ihre Rolle bei den blutigen Straßenkämpfen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in Kiew, bei denen mindestens 82 Menschen getötet worden waren.

Westen sagt Unterstützung zu

Die USA und der Internationale Währungsfonds IWF stellten indes der Ukraine Hilfe zum Wiederaufbau der am Boden liegenden Wirtschaft in Aussicht. In Zusammenarbeit mit anderen Ländern stehe Washington bereit, "die Ukraine bei der Rückkehr zu Demokratie, Stabilität und Wachstum zu unterstützen", sagte US-Finanzminister Jacob Lew beim G-20-Finanzministertreffen im australischen Sydney.

Lew hatte in Sydney mit seinem russischen Kollegen Anton Siluanow über die Folgen des Umbruchs in Kiew beraten. Dabei habe Lew gegenüber Siluanow "die Notwendigkeit zu Stabilität und wirtschaftlichen Reformen" in der Ukraine hervorgehoben, sagte ein US-Regierungsbeamter. Beide Minister seien sich einig, dass bei der finanziellen Unterstützung für Kiew auch der IWF einbezogen werden könne. "Der IWF ist in der besten Position, Staaten wie der Ukraine bei den wirtschaftlichen Herausforderungen zu helfen", sagte Lew.

IWF-Chefin Christine Lagarde sagte in Sydney, wenn es eine Anfrage aus Kiew gebe, "stehen wir natürlich bereit". Dabei könne es sowohl um politische Beratung, finanzielle Unterstützung als auch Diskussionen über die notwendigen Reformen gehen. "Wir werden bereit sein, uns zu engagieren."

Russland stoppt Hilfen

Nach den monatelangen Massenprotesten, die am Samstag in der Absetzung von Präsident Viktor Janukowitsch durch das Parlament gipfelten, ist die Ukraine in akuter Finanznot. Russland hatte Kiew zwar Notkredite von 15 Milliarden Dollar (knapp 11 Milliarden Euro) zugesagt. Doch nach einer ersten Auszahlung legte Moskau die weiteren Tranchen angesichts der dramatischen Entwicklungen in der Ukraine auf Eis.

Zunächst müsse es eine neue Regierung geben, sagte Finanzminister Siluanow. Eigentlich wollte Russland für zwei Milliarden Dollar ukrainische Anleihen kaufen. Es wäre die zweite Tranche eines insgesamt 15 Milliarden Dollar umfassenden Hilfspakets gewesen. "Letze Woche haben wir darüber gesprochen. Aber seitdem hat sich die politische Lage dramatisch geändert. Jetzt müssen wir warten bis es eine neue Regierung gibt, bevor wir darüber eine Entscheidung fällen können", sagte Siluanow.

Die Ratingagentur Standard & Poor's hatte am Freitag vorausgesagt, das Land werde in die Pleite stürzen, sollte Russland seine Hilfe stoppen. Die Ukraine ist seit Jahren von einem Staatsbankrott bedroht. Es fehlen Milliarden. Kiew muss in diesem Jahr noch 13 Milliarden Dollar an seine Gläubiger zurückzahlen. Der Westen unterstrich mehrfach, es gebe für Notkredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) Regeln - und keine Ausnahmen. Die EU stellte im vergangenen Jahr - noch vor der Krise - in Aussicht, von ihrer Seite 600 Millionen Euro zu geben, falls die Bedingungen für IWF-Stützen erfüllt seien. Dazu kam es aber nie.

Deutschland sieht nun vor allem Brüssel in der Pflicht. Um der Ukraine bei der Abwendung der Pleite zu helfen, sei "die EU am Zug", sagte der Osteuropabeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), der "Welt am Sonntag". Brüssel müsse sich dabei mit Moskau abstimmen, und auch der IWF müsse eingeschaltet werden. Für das Land müsse rasch ein Paket geschnürt werden, sagte Erler.

Janukowitsch verschwunden

Wo sich Janukowitsch aufhält, ist nach wie vor unklar. Offenbar hatte er einen Versuch gestartet, aus der Ukraine zu fliehen. Grenzschützer vereitelten jedoch das Vorhaben, indem sie seinem Flugzeug die Starterlaubnis verwehrten.

Mehrere Staatsfunktionäre setzten sich ins Ausland ab, wie Medien berichten - oder wurden an der Flucht gehindert. Russland rückte erstmals öffentlich von Janukowitsch ab. Die jüngsten Ereignisse im Nachbarland seien Beweis für den Machtverlust des Staatschefs, meinte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow, in Moskau. "Ein trauriges Ende für einen Präsidenten."

Die Ukraine steckt in der schwersten Krise seit ihrer Unabhängigkeit von der früheren Sowjetunion. Begonnen hatte sie im November mit Protesten gegen die Abkehr Janukowitschs von der Europäischen Union und seiner Hinwendung zu Moskau. Es folgten wochenlange Massenproteste und schließlich gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen in den vergangenen Tagen nach amtlichen Angaben fast 80 Menschen getötet wurden.

Quelle: ntv.de, ghö/dpa/rts/AFP

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen