Geheime Soldaten-Mobilisierung? Wie Russland "echte Männer bis 49" an die Front lockt
03.08.2022, 09:26 Uhr (aktualisiert)
Freiwillige werden unter anderem an der Universität der russischen Spezialeinheiten in Tschetschenien für den Kriegseinsatz ausgebildet.
(Foto: IMAGO/SNA)
Russland gehen die Soldaten aus. Deshalb versucht der Kreml auf allen erdenklichen Wegen, neue Kämpfer für den Kriegseinsatz in der Ukraine zu rekrutieren. Gesucht werden "echte Männer bis 49". Geld dient als Lockmittel. Reicht das, um die Gefallenen und Verwundeten zu ersetzen?
Die Ukraine meldet mehr als 40.000 gefallene russische Soldaten, der US-Geheimdienst CIA spricht von 15.000 getöteten Russen im Krieg, in US-Regierungskreisen ist die Rede von mindestens 75.000 getöteten oder verletzten russischen Soldaten. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Niemand weiß genau, wie viele Russen gefallen sind.
Fakt ist: Der Krieg ist für Moskau mehr als fünf Monate nach Beginn kein Erfolg. Aus dem Plan, die Ukraine innerhalb weniger Tage oder gar Stunden zu überrennen, ist nichts geworden. Ein baldiges Kriegsende ist weiter nicht in Sicht. Und für Russland stellt sich mittlerweile die Frage: Wo kommen neue, frische Soldaten her? Zehntausende sind tot oder verwundet, andere nach monatelangen Kämpfen müde und ausgelaugt.
Dabei hat Russland laut "Global Firepower Index" das zweitstärkste Militär der Welt. "Bei der russischen Armee ist von einer Truppenstärke von ungefähr 1,1 Millionen auszugehen, davon sind 450.000 beim Heer. Das ist natürlich die größte Teilstreitkraft Russlands. Und es gibt Quellen, die sagen, dass bis zu 75 Prozent des russischen Feldheeres in der Ukraine eingesetzt werden. Das wäre ein ungeheuer hoher Wert, wenn er so stimmen sollte", sagt Joachim Weber, Sicherheits- und Russland-Experte von der Uni Bonn, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Geld als Lockmittel
Um die Truppenstärke noch weiter zu erhöhen, bräuchte es eine Generalmobilmachung. Dann könnte im Prinzip jeder erwachsene Russe eingezogen werden. Moskau allerdings dementiert derartige Pläne. Russlands Präsident Wladimir Putin müsste sein Land dafür auch erst in einen offiziellen Kriegszustand versetzen. Noch immer spricht der Kreml aber nur von einer "militärischen Spezialoperation". Solange der Kriegszustand nicht ausgerufen werde, könne Russland seine Wehrpflichtigen nicht einberufen, erklärt Weber.
Auf die Generalmobilmachung verzichtet Russland bislang, setzt stattdessen weiter auf Berufs- und Zeitsoldaten und auf Söldner wie die Wagner-Gruppe. Die 85 Föderationssubjekte Russlands, das sind die einzelnen Regionen und Großstädte Russlands, versuchen Freiwilligenbataillone zu gründen - per Videobotschaft, per Online-Stellenanzeige oder mit einfachen Werbeplakaten soll Freiwilligen der Militäreinsatz schmackhaft gemacht werden. Appelliert wird an den Patriotismus, gelockt wird mit verhältnismäßig viel Geld.
Freiwilligenbataillone im ganzen Land
Im Gebiet Jaroslawl nördlich von Moskau etwa werden gezielt Freiwillige mit Einmalzahlungen von umgerechnet 2000 Euro und 600 Euro monatlich in den Militärdienst gelockt. Sobald die Angeworbenen im Kriegsgebiet eingesetzt werden, gibt es 2500 Euro monatlich, berichtet die britische Denkfabrik "Institute for the Study of War". Das Angebot richte sich an 20- bis 50-Jährige. Dutzende Einwohner der Region sollen sich dem Bataillon bereits angeschlossen haben. Kein Wunder: Das durchschnittliche Monatsgehalt in Russland liegt nur bei etwa 700 Euro.
Auch die Stadt Konakowo in der Nähe von Moskau versucht Freiwillige mit Geld anzuwerben. 3400 bis 6800 Euro Bezahlung gebe es für mindestens drei Monate an der Front, sagt der Militärkommissar der Stadt in einer Videobotschaft.
Die Region Perm im Uralvorland spricht auf einem Rekrutierungsplakat "echte Männer bis 49" an, lockt mit hohem Sold, Ausbildung und Versicherung. Außerdem sollen die Freiwilligen den Status eines "Kampfveteranen" erhalten, der ihren Kindern eine bevorzugte Zulassung zu Universitäten verspricht, berichtet CNN. "Gesucht sind mutige, tapfere, selbstbewusste, außergewöhnliche und vielseitige Patrioten unser Nation." Einen Monat Trainingszeit ist vorgesehen, bevor es in den Krieg geht.
In der autonomen Republik Mari El zwischen den Millionenstädten Nischni Nowgorod und Kasan wurden zwei Freiwilligenbataillone aufgestellt, ein drittes soll folgen. Einzige Voraussetzung: ein Mittelschulabschluss nach der neunten Klasse. Die Soldaten sollen pro Monat umgerechnet 5000 Euro erhalten. Stirbt der Soldat im Krieg, würden 84.000 Euro an die Familie ausgezahlt.
Sonderfall Tschetschenien
Eine besonders wichtige Rolle bei der Rekrutierung nimmt Ramsan Kadyrow ein, der Machthaber von Tschetschenien. Kaum ein Regionalpräsident hat in Russland so viel Macht wie "Putins Bluthund". Kadyrow versteht seine Armee als "Infanterietruppen Putins". Er rekrutiert aber nicht nur Tschetschenen für den Krieg in der Ukraine, sondern Männer aus ganz Russland. Freiwillige werden mit umgerechnet bis zu 6000 Euro für drei Monate angeworben - zusätzlich zu den 53 Euro täglich, die das russische Verteidigungsministerium zahlt. Die Ausbildung an der russischen Universität für Spezialkräfte in Tschetschenien soll laut "New York Times" nur eine Woche dauern. CNN berichtet von bis zu 8000 Tschetschenen, die in diesem Krieg bislang eingesetzt wurden.
"Mit den Freiwilligenbataillonen versuchen die Russen, ihre Truppenstärke zu halten und zu stabilisieren. Irgendwoher müssen die Leute kommen, die die Lücken füllen. Der einfachste Weg ist es, Freiwillige zu finden. Und es gibt wohl eine ganze Reihe von Leuten, die der staatlichen Propaganda Glauben schenken und vielleicht aus Abenteuerlust, vor allem aber aus finanziellen Gründen in den Krieg ziehen", analysiert Experte Weber im Podcast.
Analysten gehen laut CNN davon aus, dass über den Weg der Freiwilligenrekrutierung mehr als 30.000 Russen mobilisiert werden könnten. Die meisten würden dann in den Donbass geschickt, heißt es.
"Erinnert an dunkelste Stalin-Zeiten"
In den besetzten Gebieten Luhansk und Donezk verzichtet Russland bislang auf Prämien für seine Soldaten. Hier werden pro-russische Männer zwischen 18 und 65 stattdessen zwangseingezogen. Und weil es sich bei ihnen um ukrainische Staatsbürger handelt, geht Russland laut Militärbeobachtern besonders sorglos mit ihnen um. Mit wenig oder gar keiner Ausbildung und alten Waffen würden sie in die Schützengräben geschickt, heißt es.
Es gibt auch Berichte, wonach der Inlandsgeheimdienst FSB und die Söldnergruppe Wagner in Strafkolonien Gefangene für den Kriegseinsatz anwerben. Die "Freiwilligen" werden mit viel Geld und der Möglichkeit auf anschließende Freilassung angelockt.
"Es wird massiv versucht zu mobilisieren unterhalb der Schwelle einer offiziellen Mobilmachung. Wir hören, dass man in die Gefängnisse reingeht, den Leuten dort Geld und eine Haftentlassung anbietet. Das ist eine Rekrutierungsstrategie, die an die dunkelsten Zeiten der Stalin-Ära im Zweiten Weltkrieg erinnert", sagt Carlo Masala, Militärexperte von der Bundeswehr-Universität München, im "Stern"-Podcast "Ukraine - Die Lage".
Professionelle Soldaten können aber weder durch Gefangene noch durch sonstige Freiwillige so einfach ersetzt werden, wird Kateryna Stepanenko vom "Institute for the Study of War" bei CNN zitiert. "Es ist unwahrscheinlich, dass die kurzfristige Ausbildung Freiwillige ohne Vorerfahrung zu effektiven Soldaten macht."
Rekrutierungen mit (fast) allen Mitteln
Die "New York Times" schreibt angesichts der russischen Rekrutierungsoffensive von einer "geheimen Mobilisierung", die längst laufe. Dieser Begriff ist nach Einschätzung von Joachim Weber aber "noch nicht ganz richtig", da die Freiwilligkeit zumindest in den meisten Fällen noch gewahrt sei. Abgesehen von den besetzten Gebieten. "Ansonsten wird in diesem riesigen Land versucht, mit allen möglichen Maßnahmen die Leute dazu zu bringen, einen Vertrag zu unterschreiben, um dann zum Beispiel für vier oder fünf Monate an einer 'Spezialoperation' teilzunehmen." Russlands Rekrutierungspolitik sei bis auf einzelne Ausnahmen noch nicht an dem Punkt, "wo man Leute bedroht und sie zum Kriegsdienst zwingt", sagt Weber.
Die massenhafte Anwerbung Freiwilliger könne zahlenmäßig die Zahl der Gefallenen und Verwundeten für eine gewisse Zeit lang ausgleichen, erhöhe aber nicht die Motivation in der Truppe, sagt Weber. Hohe Geldzahlungen seien längst keine Garantie für eine hohe Kampfmoral. Das unterscheide die russischen von den ukrainischen Truppen, so der Sicherheitsexperte bei "Wieder was gelernt".
Generalmobilmachung? "Ukraine einen Schritt weiter"
Die Bereitschaft der Freiwilligen sei auf ukrainischer Seite deutlich größer. Sie wollen das eigene Land gegen die Russen verteidigen. "Die Moral in der russischen Armee wird nicht hoch sein, abgesehen von chauvinistischen Gruppen wie Wagner, die aus Überzeugungstätern, letztlich aus Berufskillern bestehen. Die brauchen sie nicht zu motivieren, aber das ist eine Minderheit."
Sicherheitsexperte Weber beschreibt die meisten russischen Soldaten als "mehr oder minder normale Russen, denen man andere Dinge vorgaukelt". Die meisten wüssten nicht, was es bedeute, "um jede Straße und jedes Haus erbittert zu kämpfen".
Dramatisch verändern könnte sich die Lage nur, wenn Russland irgendwann doch die Generalmobilmachung ausruft. Dann wäre die Gleichung "140 gegen 40 Millionen Einwohner", sagt Joachim Weber. Dann könne man "in einem ganz anderen Ausmaß Soldaten an die Front werfen", so der Experte. Die Ukrainer seien bereits "einen Schritt weiter", stellt Weber klar. "Sie haben von Anfang an alle wehrfähigen Männer bis 60 einberufen."
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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(Dieser Artikel wurde am Montag, 01. August 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de