Politik

Historikerin über NS-Prozesse "Rechtsprechung war täterfreundlich"

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Dieser Dienstausweis soll Demjanjuks Tätigkeit als KZ-Aufseher beweisen.

(Foto: dpa)

Das Urteil gegen den KZ-Aufseher Demjanjuk war richtig, weil er "Teil des Vernichtungsapparats" der Nazis war, sagt Historikerin Weinke im Interview mit n-tv.de. Sie erklärt das Versagen der deutschen Justiz bei der Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechern und sagt, warum Prozesse gegen Täter aus der Nazi-Zeit heute noch so wichtig sind: "Sie spielen für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts eine wichtige Rolle".

n-tv.de: Gegen den mutmaßlichen KZ-Aufseher John Demjanjuk ist vermutlich einer der letzten großen Prozesse gegen Verbrecher aus der Zeit des Nationalsozialismus gelaufen. Allerdings soll Demjanjuk nur ein Trawniki gewesen sein, ein Ukrainer, der zu dem Dienst als Aufseher im Lager von Sobibor gezwungen wurde. Auch seine Verteidigung beruft sich auf die Befehlsnotlage. Steht mit Demjanjuk der Falsche vor Gericht?

Annette Weinke: Wir haben es im Fall Demjanjuk mit einem besonders komplizierten Verfahren zu tun. Der Prozess hat eine lange Vorgeschichte und die Beweislage ist außerordentlich schwierig. Das war auch einer der Gründe dafür, dass sich das Verfahren relativ lange hingezogen hat. Der Prozessverlauf hat aber klar gezeigt, dass es sich um eine Person handelt, die zwar nur an der Peripherie des Vernichtungsapparats tätig war, aber zweifelsohne Teil dieses Vernichtungsapparats war. Insofern trifft die Auffassung, es handele sich hier um den Falschen, nicht zu.

Wurde Demjanjuk vielleicht auch zum Teil als Sündenbock verurteilt, der symbolisch für die Verbrechen der Nationalsozialisten steht?

Nein. Es ist zwar sicher richtig, dass sich die westdeutsche Justiz lange damit schwer getan hat, hochrangige Täter aus der NS-Zeit zu überführen und zu verurteilen. Aber diese Schwierigkeiten können ja nicht dazu führen, die kleineren Täter laufen zu lassen. Zudem hat sich die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren fundamental verändert. Das ist auch einer der wesentlichen Gründe dafür, weshalb Demjanjuk jetzt in München vor Gericht stand. Mit Symbolik haben auf der anderen Seite alle diese Verfahren zu tun. Kriegsverbrecherprozesse sind immer sehr stark von einer politischen und historischen Symbolik überwölbt. Das hängt damit zusammen, dass sie Teil der laufenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und deren Massenverbrechen sind.

Das heißt, jedes Verfahren dient auch der Aufarbeitung der NS-Zeit.

Wenn man sich die Geschichte der Bundesrepublik anschaut, dann muss man sogar zu dem Schluss kommen, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ganz überwiegend über das Medium der Strafjustiz, der Strafprozesse gelaufen ist. Die gesellschaftliche Selbstverständigung über die Nazi-Zeit wurde sehr stark durch die Prozesse und ihre Ergebnisse geprägt.

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Verurteilung richtig: Demjanjuk konnte durch den Fall des Eisernen Vorhangs verfolgt werden.

(Foto: dpa)

Begrüßen Sie Demjanjuks Verurteilung?

Grundsätzlich ja. Aber es kommt bei diesem Verfahren nicht so sehr auf die Strafhöhe an, sondern auf die Tatsache, dass es bei solchen Tätern überhaupt zu einer klaren gerichtlichen Ahndung kommt.

Sie haben die Schwierigkeit der deutschen Justiz bei der Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern angesprochen. Hat die juristische Verfolgung in Deutschland zu spät begonnen?

Ja, mit Sicherheit. Unmittelbar nach Kriegsende haben die Alliierten die juristische Aufarbeitung dankenswerterweise in die Hand genommen. Das hat aber nicht dazu geführt, dass die Deutschen nach Gründung der Bundesrepublik selbst tatkräftig ans Werk gingen. Die westdeutsche Justiz hat die Sache nicht nur schleifen lassen, sondern hat die alliierten Strafprozesse sogar rasch abgewickelt. Man hat versucht, die Ergebnisse der Strafverfolgung rückgängig zu machen, dieses Kapitel der alliierten Kriegsverbrecherprozesse auszulöschen. Diese Bemühungen haben aber paradoxerweise Ende der 50er Jahre dazu geführt, dass die Defizite und die Probleme der deutschen Justiz greifbar wurden und man begann, sich mit bestimmten Tätergruppen zu beschäftigen, die vor Ort Verbrechen begangen hatten. Die Ergebnisse dieser zweiten Strafverfolgungswelle waren allerdings nicht besonders befriedigend, weil die Gerichte einfach nicht mitgezogen haben.

Lag das an der schwierigen Beweislage? Oder haben die Gerichte die Verfahren aus politischen Gründen behindert?

Es gab damals fast durchgehend eine sehr täterfreundliche Rechtsprechung. Der Standpunkt damals war, dass es einige Haupttäter an der Spitze des Nationalsozialismus gab – Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Herrmann Göhring. Alle anderen waren in den Augen der Richter aber nur Gehilfen und kamen dementsprechend entweder mit sehr geringen Freiheitsstrafen oder sogar mit Freisprüchen davon. Und das ganze unter Ägide des Bundesgerichtshofes, der sich erst in den 90er Jahren im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nachträglich für die täterfreundliche Rechtsprechung entschuldigt hat.

Die meisten Prozesse in Deutschland wurden gegen kleinere Lichter, Befehlsempfänger, und nicht gegen die Hauptverantwortlichen geführt. Woran liegt das?

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Juristisches Neuland: NS-Prozesse helfen auch dem Internationalen Strafgerichtshof durch die Weiterentwicklung des internationalen Rechts.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Das hat vor allem damit zu tun, dass die Anstifter zu einem großen Teil durch die rückwirkende Verjährung von 1968 salviert worden sind. Das war ein wichtiger Einschnitt, weil damit bestimmte Leute nicht mehr verfolgt wurden. Mittlerweile sind die meisten Täter auch überwiegend viel zu alt oder bereits verstorben. Dass nun noch Ermittlungen gegen osteuropäische Hilfskräfte aufgenommen wurden, wie im Fall Demjanjuk, hat schlicht und einfach mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun. Damit wurde es den Strafverfolgern, speziell den Ermittlern aus Ludwigsburg, möglich, die osteuropäischen Archive abzugrasen und dort Beweismaterial zusammenzutragen.

Wie viele gesuchte Kriegsverbrecher aus der Zeit des Nationalsozialismus gibt es derzeit etwa noch?

Ich kann da keine genauen Zahlen nennen. Ich schätze aber, dass es sich um einige wenige Dutzend Personen weltweit handelt. Mehr sicher nicht.

Sie haben die gesellschaftliche Bedeutung der Aufarbeitung bei solchen Verfahren angesprochen. Was erwarten Sie sich darüber hinaus von späten NS-Prozessen? Welchen Sinn hat ein solches Verfahren heute noch?

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Dr. Annette Weinke arbeitet am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Jena. Ihr Forschungsschwerpunkt ist der jursitische Umgang mit NS- und Kriegsverbrechern

(Foto: privat)

Sie spielen für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts eine wichtige Rolle. Seit den 90er Jahren fand dabei eine rasante Weiterentwicklung statt, die in der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs kulminierte. Das universale Prinzip der Strafverfolgung hat sich weltweit durchgesetzt, wenn es auch mit vielen praktischen Hindernissen beladen ist. Aber das Prinzip als solches ist mittlerweile weltweit anerkannt und es gibt eigentlich keinen Täter mehr, der an Staatsverbrechen beteiligt war, der sich noch hinter staatlicher Immunität oder Souveränität verschanzen könnte. Es gibt natürlich noch ermittlungstechnische Probleme, etwa der Täter habhaft zu werden, aber es hat psychologisch doch einen großen Einfluss, dass es für solche Verbrecher keinen sicheren Hort mehr gibt.

Diese Standards gelten also ebenso für Kriegsverbrecher aus der Zeit des Nationalsozialismus wie Täter vom Balkan oder aus Bürgerkriegsländern in Afrika?

Die Ausgangslage unterscheidet sich natürlich immer. Aber es ist möglich und Teil unserer Realität, dass diese Verbrechen jetzt weltweit verfolgt werden können. Die deutschen Behörden, die sich mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen lange Zeit schwergetan haben, sind mittlerweile zu eindeutigen Befürwortern dieser internationalen Strafgerichtsbarkeit geworden. Das ist ein sehr positives Signal.

Mit Annette Weinke sprach Till Schwarze

Quelle: ntv.de

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