Norwegen unter Schock Rechtsradikaler tötet mehr als 90 Menschen
23.07.2011, 17:29 Uhr
Tote am Ufer von Utøya.
(Foto: REUTERS)
Nach den Anschlägen in Norwegen steigt die Zahl der Toten auf 92. Noch immer sucht die Polizei das Wasser um die kleine Insel Utøya nach Toten ab. Der mutmaßliche Täter hatte offenbar Kontakte zur rechtsradikalen Szene. Sein Motiv: Hass. "Ich bringe euch alle um. Alle müssen sterben", schrie er, als er als Polizist verkleidet im Ferienlager um sich schoss. Allein dort starben 85 Jugendliche. Zuvor hatte der Mann in Oslo Bomben gezündet. Dabei starben 7 Menschen. Die Polizei schließt nicht aus, dass es einen zweiten Täter gibt.
Norwegen steht nach dem Doppelanschlag in der Hauptstadt Oslo und in einem Ferienlager auf der Insel Utøya unter Schock. Insgesamt kamen bei dem Massenmord mindestens 92 Menschen ums Leben. Der mutmaßliche Täter ist ein 32-jähriger Norweger, dessen Name mit Anders Behring Breivik angegeben wurde. Er wurde bereits am Freitag festgenommen.
Der Mann scheint einem Ideologie-Gemisch aus Rechtsextremismus und christlichem Fundamentalismus anzuhängen. Zwischen 1999 und 2006 war er Mitglied bei der rechtspopulistischen Fortschrittspartei. Von 2002 bis 2004 habe er eine verantwortliche Stellung innerhalb der Jugendorganisation FpU innegehabt, teilte die Partei mit.
"Eine paradiesische Insel wurde zur Hölle", sagte Ministerpräsident Jens Stoltenberg zu dem Massaker auf der kleinen Insel nahe der Hauptstadt, wo der Täter mindestens 85 Jugendliche kaltblütig erschoss. Die Jugendorganisation der regierenden Arbeiterpartei hatte dort ein Feriencamp veranstaltet. Kurz zuvor war im Osloer Regierungsviertel eine Bombe explodierte und hatte 7 Menschen in den Tod gerissen.
Die Polizei schließt nicht aus, dass die Zahl der Toten noch steigt. Im See um die Insel wird nach weiteren Opfern gesucht. Zudem werden noch Schwerverletzte in Krankenhäusern behandelt.
Zunächst ging die Polizei von einem Einzeltäter aus, schließt aber inzwischen nicht mehr aus, dass er einen Komplizen hatte. "Wir haben mehrere übereinstimmende Zeugenaussagen, wonach es einen zweiten Täter geben soll. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, das aufzuklären", sagte Kriposprecher Einar Aas der Zeitung "Verdens Gang".
Täter hatte Kontakte zur Nazi-Szene
Laut der in Stockholm ansässigen Expo-Stiftung, die rechtsextreme Aktivitäten überwacht, war der festgenommene Norweger seit 2009 bei einem schwedischen Neonazi-Internetforum angemeldet. Auf dem Internet-Portal namens Nordisk ist demnach ein breites Rechtsaußen-Spektrum vertreten - von Abgeordneten der rechtspopulistischen Schwedendemokraten bis hin zu Neonazis.
Bei der Festnahme soll der Attentäter nach offiziell unbestätigten Angaben von Anti-Terror-Spezialisten aus der Luft angegriffen und mit Tränengas betäubt worden sein. Der TV-Sender NRK berief sich auf "Polizeikreise" mit entsprechenden Angaben. Die Spezialeinheit soll am Freitag sofort nach den ersten Meldungen über Schüsse per Hubschrauber zu der 40 Kilometer von Oslo entfernten Insel geflogen sein.
Hass auf die Arbeiterpartei
Seinen Hass gerade auf die Arbeiterpartei hatte der mutmaßliche Täter auch in Internet-Beiträgen mehrfach nach außen getragen: Deren Jugendorganisation nannte er in Anlehnung an die Hitlerjugend höhnisch "Stoltenberg-Jugend". Norwegens frühere Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, für die meisten Norweger eine Landesmutter, war für ihn eine "Landesmörderin".

In Sundvollen wird ein junger Mann festgenommen, der ein Messer bei sich geführt haben soll.
(Foto: AP)
Am Samstag wurde eine zweite Person festgenommen, ein junger Mann, der sich dem norwegischen Ministerpräsidenten mit einem Messer genähert haben soll. Der junge Mann sei in Sundvollen auf dem Festland gegenüber von Utøya gefasst worden. Dort befindet sich ein Hotel, in dem sich die Überlebenden des Angriffs versammelt hatten. Der Festgenommene habe angegeben, er habe das Messer bei sich getragen, weil er sich nicht sicher gefühlt habe, berichtete eine NRK-Journalistin. Außerdem habe er versichert, dass er der Arbeiterjugend angehöre, die das Camp veranstaltete.
Er wolle nicht über die Motive der Attentate spekulieren, erklärte Ministerpräsident Stoltenberg auf einer Pressekonferenz. Norwegen habe Probleme mit Rechtsextremen. "Aber verglichen mit anderen Ländern würde ich nicht sagen, dass wir ein großes Problem mit ihnen haben."
"Schwerstes Verbrechen seit Zweitem Weltkrieg"

Norwegens Ministerpräsident Stoltenberg an einem Hotel, wo sich Überlebende und Angehörige versammelt haben.
(Foto: REUTERS)
Er selbst sei fast jeden Sommer auf dieser Insel gewesen und habe dort schöne Tage verbracht, sagte Stoltenberg. Den Anschlag nannte er eine nationale Tragödie. "Seit dem Zweiten Weltkrieg hat unser Land nicht so ein schweres Verbrechen gesehen."
Am Samstagnachmittag besuchte Stoltenberg ebenso wie König Harald, dessen Frau und Kronprinz Haakon Überlebende und deren Angehörige in Sundvollen. Er habe einige der Opfer persönlich gekannt, sagte der Regierungschef tief betroffen. Die ganze Welt sei in Gedanken bei ihren Angehörigen und den Überlebenden.
Merkel: Der Hass ist unser gemeinsamer Feind
In Berlin rief Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu auf, gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit und Hass einzustehen. "Dieser Hass ist unser gemeinsamer Feind." Alle, die an ein friedliches Zusammenlaben glaubten, müssten dem gemeinsam entgegenwirken. Merkel sagte weiter, sie habe in einem Telefonat mit Stoltenberg ihre Anteilnahme ausgedrückt. Ihre Gedanken seien bei den Angehörigen der Opfer des entsetzlichen Verbrechens.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle teilte mit, den norwegischen Stellen sei umfassende Hilfe sowohl bei der technischen Aufklärung der Tat wie auch bei der Betreuung von Opfern angeboten worden.
Attentäter als Polizist verkleidet
Nur wenige Stunden nach der Explosion in der Osloer Innenstadt betrat Breivik nach bisherigen Ermittlungsergebnissen in Polizeiuniform und bewaffnet die kleine Insel Utøya. Dort befindet sich ein Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF, in dem sich etwa 600 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren aufhielten.
Der Mann gab an, wegen des Anschlags in Oslo die Sicherheit überprüfen zu wollen. Teilnehmer des Sommercamps berichteten, der Angreifer habe sie als Polizist verkleidet angelockt. Er habe gesagt: "Kommt zu mir, ich habe wichtige Informationen, kommt zu mir, es besteht keine Gefahr", sagte die 15-jährige Elise laut Nachrichtenagentur NTB.
"Wir dachten zuerst an einen Streich"
"Wir waren alle im Haupthaus, um die Ereignisse in Oslo zu besprechen", berichtete die 16 Jahre alte Hana. "Plötzlich hörten wir Schüsse. Wir dachten zuerst an einen Streich. Dann aber begann jeder wegzulaufen", sagte sie der Zeitung "Aftenposten". Sie habe einen Polizisten gesehen. Der habe gesagt "Ich werde jeden kriegen" und habe angefangen zu schießen. "Wir rannten dann zum See und schwammen los."
Augenzeugenberichten zufolge wurde mehr als 45 Minuten geschossen. Was sich in dieser Zeit auf der Insel abspielte, ist kaum vorstellbar: Überlebende berichteten von Panik. Einige versuchten, sich in Gebäuden zu verstecken. Andere rannten in die den Wald oder kletterte auf Bäume. Viele der Teenager sprangen aus Todesangst ins Wasser, um schwimmend von der Insel zu entkommen. Der Attentäter soll auch auf sie geschossen haben.
"Ich bringe euch alle um"
"Ich hab ihn nicht gesehen, aber gehört. Er schrie und jubelte und gab mehrere Siegesrufe von sich", berichtete die 22-jährige Nicoline Bjerge Schie dem "Dagbladet". Die junge Frau hatte sich mit Freunden hinter einem Felsen am Wasser versteckt. In der Zeitung "Verdens Gang" sagte der sozialdemokratische Jugendfunktionär Adrian Pracon, dass der Täter mehrfach schrie: "Ich bringe euch alle um. Alle müssen sterben."
"Hier zeigte sich das Schlechteste im Menschen, aber auch das Beste", sagte ein weiterer Augenzeuge im Rundfunksender NRK: Als die ersten Schüsse vom Festland aus zu hören waren, machten sich sofort alle möglichen Anwohner und Touristen mit ihren Booten auf den Weg, um möglichst viele der Jugendlichen trotz Kugelhagel aus dem Wasser zur holen.
Sprengstoff aus Dünger
Der mutmaßliche Täter hatte sich in einem Dorf als Gemüsebauer niedergelassen. Er habe dort auch ein Laboratorium zur Sprengstoffherstellung eingerichtet, das von der Polizei in der Nacht zum Sonntag untersucht worden sei, berichtete ein norwegischer Journalist.
Eine Handelskette für landwirtschaftlichen Bedarf teilte mit, der Mann habe am 4. Mai sechs Tonnen Dünger gekauft. Die Menge sei für einen solchen landwirtschaftlichen Betrieb nicht ungewöhnlich. Dünger kann aber auch zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden. Auf Utøya wurde nicht detonierter Sprengstoff gefunden, den vermutlich der Attentäter mitgebracht hatte.
Militär patrouilliert in Oslo
Die Osloer Innenstadt, wo die Explosion große Zerstörungen angerichtet hat, wurde am Samstag vom Militär gesichert. Die Einheiten sollten vor allem die Ermittlungsarbeit der Polizei im Regierungsviertel absichern. "Natürlich wirkt das sehr massiv mit dem Militär", erklärte Oslos Polizeichef Øystein Mæland im TV-Sender NRK. "Aber es ist eine normale Hilfeleistung für uns."
Der letzte rechtsextreme Anschlag einer dermaßen großen Dimension wurde 1995 in der US-Stadt Oklahoma ausgeführt. Damals kamen 168 ums Leben, als Timothy McVeigh den Sprengstoff in einem Laster vor einem Regierungsgebäude zündete.
Quelle: ntv.de, hvo/dpa/rts/AFP