Wäre "mutig und ehrlich" Reckwitz rät Merz zu offensiver Verlustansprache
05.12.2024, 00:18 Uhr Artikel anhören
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz stellt die Kategorie des Verlustes ins Zentrum seiner jüngsten Analysen.
(Foto: picture alliance / dts-Agentur)
Für den Soziologen Andreas Reckwitz spielen Verlustängste eine wichtigere Rolle, als es den etablierten Parteien bislang bewusst ist. Während Populisten damit arbeiten, seien westliche Demokratien noch immer dem angeschlagenen Fortschrittsmodell verbunden. Er appelliert an die Parteien.
Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz appelliert an die Politik, offensiver mit Verlusten und Verlustängsten der Bürger umzugehen. Diese seien die gemeinsame Wurzel des Wahlsiegs von Donald Trump und des Zusammenbruchs der Ampelkoalition, sagte Reckwitz dem "Stern". "Die Menschen erleben Verluste oder fühlen sich von möglichen Verlusten bedroht - in den USA wie in Deutschland. Und das sehr viel intensiver und massiver, als das früher der Fall war." Als Beispiele nannte der Soziologe den Verlust persönlicher Freiheit während der Corona-Pandemie, den Verlust der Sicherheit in Europa wegen des Ukraine-Kriegs oder die Verlustängste beim Konsum wegen der Klimakrise.
Das alles ergebe so etwas wie "eine Verlust-Eskalation". Als Reaktion erstarke der Populismus. "Er schöpft Verlusterfahrungen ab und spitzt sie zu, indem er verspricht, eine idealisierte Vergangenheit zurückzuholen." "Make America great again!" sei eine Art Retro-Utopie, erläuterte Reckwitz. Der Populismus spitze alles auf ein "Täter-Opfer-Narrativ" zu. Dahinter stecke "eine sehr wirksame Form der Gefühlsbewirtschaftung", Populismus sei "politisches Verlustunternehmertum", so Reckwitz. Die etablierten Parteien müssten nun Gewinnern und Verlierern des Wandels gleichermaßen ein Angebot machen: "eine enorme politische Herausforderung".
"Über Mechanismen des Verlustausgleichs nachdenken"
Auf die Frage, ob Friedrich Merz im Falle seiner Wahl zum Bundeskanzler über seine Regierungserklärung schreiben solle: "Für eine kluge Politik im Zeitalter der Verluste", sagte Reckwitz dem Magazin: "Das wäre sicher mutig. Mit einer solchen Überschrift würde sich die Politik zumindest ehrlich machen und die Verluste nicht mehr einfach wegreden." Die Politik müsse intensiver über "Mechanismen des Verlustausgleichs" nachdenken, so Reckwitz weiter. Es ist "für eine Gesellschaft langfristig riskant, wenn manche Gruppen auf ihren Verlusten sitzen bleiben".
Reckwitz plädierte für einen anderen Umgang mit den Verlusten, die generell ein Problem der Moderne seien. "Verluste erscheinen nur als Enttäuschung, als etwas, das es eigentlich nicht geben dürfte, das im Grunde sinnlos ist. Oft werden sie beschwiegen oder die Verlierer beschämt: Sie sollen sich halt nicht so anstellen." Die fortschrittsorientierte Moderne habe kein kulturelles Skript für den Umgang mit Verlusten. Wahrscheinlich werde künftig so etwas wie gesellschaftliche Trauerarbeit immer wichtiger.
Reckwitz lehrt als Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Er gilt als einer der einflussreichsten Soziologen der Gegenwart. Sein Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" wurde zum Bestseller und gehört zur Standardlektüre vieler Politiker. In seinem neuen Buch "Verlust. Ein Grundproblem der Moderne" befasst er sich mit den tief sitzenden Verlusterfahrungen der westlichen Gesellschaften.
Quelle: ntv.de, mau