Aus Kommentaren deutscher Zeitungen Regierungskrise in Berlin
14.11.2001, 09:17 Uhr"Die Welt": Wer bislang glaubte, die Regierung führe uns souverän durch die Krise, muss sich nun die Augen reiben. Hinter der Theatralik aus Moralität und Bündnistreue, mit einem eisernen Kanzler und einem wendigen Außenminister lüftet sich nun der Vorhang und zeigt die Laienspielschar der Weltpolitik auf offener Bühne. Wie entblößt das Ensemble tatsächlich ist, verrät der Verzweiflungsakt des Kanzlers: Er muss die Vertrauensfrage stellen.
"Frankfurter Rundschau" :Selbst wenn man unterstellte, die Grünen blieben zähneknirschend bei der Stange - allein die absehbar erratische Fortentwicklung des Waffengangs gegen den internationalen Terrorismus wird binnen Wochen der Koalition gleichlaufende Entscheidungen abverlangen. Und die Vertrauensfrage kann man nicht alle 14 Tage stellen. Will Schröder also Neuwahlen? Es wäre ein nachvollziehbares politisches Kalkuel. Die Union in den Sielen, die FDP in froher Erwartung auf bürgerliche Stimmen. Aber solche taktischen Kalkulationen stecken voller Risiken für die SPD. Schröder würde als gescheiterter Kanzler Wahlkampf führen. Fest stehen als Verlierer bisher nur die Soldaten der Bundeswehr. Sie werden mit einem erpressten Mandat in den bewaffneten Einsatz gehen.
"Handelsblatt": ... Die Verknüpfung der Vertrauens- mit einer Sachfrage ist in der Geschichte der Bundesrepublik bislang einmalig. In diesem Fall ist sie sinnvoll. Der Kanzler muss wissen, ob er sich in einer solch grundlegenden Entscheidung auf die eigenen Leute verlassen kann. Er muss auch den Erosionsprozess in der Koalition stoppen, der bereits mit der Abstimmung über den Mazedonieneinsatz begonnen hat. Wer weiß, bei welchem Thema die rot-grüne Mehrheit demnächst gebröckelt wäre.
"Berliner Zeitung": Gerhard Schröders Kalkül kann aufgehen. Unter dem Druck der mit der Existenz der Regierung verknüpften Entscheidung und angesichts der Realität in Afghanistan dürfte die Zahl der Bedenkenträger zusammenschmelzen. Ob es eine gemeinsame Grundüberzeugung von SPD und Grünen über die internationale Rolle Deutschlands und die daraus abzuleitenden Verpflichtungen gibt, ist damit aber überhaupt nicht beantwortet. Den wahren Test auf die Haltbarkeit der Koalition müssen die bevorstehenden Parteitage bringen. Denn so viel ist klar: Ein Zurück in deutschen Isolationismus und in Scheckbuch-Einsätze gibt es nicht. Für keine Partei, die hier regieren will.
"Westdeutsche Zeitung": Ein Kanzler, der seine Mehrheit in einer solchen Frage mit allerlei Finten und Druckmittel zu erreichen versucht, ist am Ende und seine Koalition auch. Das trifft den eilends wieder aus New York heimwärts düsenden Außenminister ebenso. Da hilft nur eins: Die Koalition zerbrechen lassen und an einer neuen arbeiten.
"Süddeutsche Zeitung": Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik musste ein Kanzler so viel Kraft nach innen aufwenden, um seine Politik durchzusetzen. Helmut Schmidt wird Schröder gesagt haben, dass er drohen muss, den Bettel hinzuschmeißen, wenn die rot-grüne Regierung bestehen bleiben soll. Jetzt rückt Schröder automatisch in die Rolle Schmidts, der sich immer nach einer Partei gesehnt hat, die ihn solidarisch trägt, ihm den Rücken frei hält und seine Politik willig in die Wahlkreise trägt.
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Mit der Vertrauensfrage versucht Schröder jetzt zu retten, was noch zu retten ist: sich selber. Denn selbst wenn die Grünen sich vom peitschenschwingenden Kanzler noch einmal zur Ordnung rufen lassen, ist die rot-grüne Koalition damit am Ende ihres politischen Lebens angelangt. Auch von einer bestandenen Vertrauensfrage bleibt vor allem in Erinnerung, dass jemand den Kanzler dazu gezwungen hat, sie überhaupt zu stellen.
"Hannoversche Allgemeine Zeitung": Sollte die Abstimmung - wider Erwarten - missglücken, kann Schröder auf Neuwahlen setzen. Ein Gedanke, der für die SPD-Oberen einen gewissen Reiz hat. Der wichtigste Gegner ist derzeit etwas derangiert. Die Kanzler-Frage wäre wieder eine Kandidaten-Frage - zum Unglück der Union. Zu den Stärken von Schröder gehörte schon immer: Kühl kalkulieren und auf Risiko gehen. Bislang hat es immer geklappt.
"Dresdner Neueste Nachrichten": Ein wahrer Doppelbeschluss ist das, was der nervös gewordene Kanzler da aus dem Hut gezaubert hat. Die Verknüpfung von Afghanistan-Einsatz und Vertrauensfrage, die Schröder versucht, wird - sollte sie gelingen - ungefähr so haltbar sein, wie der sozial-liberale Bündnisschwur von Helmut Schmidt aus dem Jahre 1982. Er gelang und führte doch kurze Zeit danach zum Koalitionsbruch mangels gemeinsamer Politikmasse.
"Thüringer Allgemeine ": Man kann das auch Erpressung nennen. Doch das wird einen Gerhard Schröder nicht sonderlich stören. Am Ende zählt nur der Sieg. Und nach dem gestrigen Tag stehen die Chancen dafür nicht einmal schlecht. Längst geht es nicht mehr um den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan. Es geht um Rot-Grün.
"Lübecker Nachrichten": Noch ein Grund spricht in Schröders Sinn für rasche Neuwahlen: Die Wirtschaftsaussichten fürs Wahljahr 2002 sind mehr als trübe, wie die Experten gestern durchsickern ließen. Das könnte die derzeit so günstigen Aussichten für die Kanzlerpartei mächtig eintrüben, besonders falls die Afghanistan-Krise wieder in den Hintergrund rückt. Selbst wenn angesichts eines solchen Szenarios die Grünen-Fraktion beidreht, muss man Angela Merkel Recht geben: Das "rot-grüne Projekt" ist am Ende.
"Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung": Der Volksmund weiss: besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Selbst wenn es rot-grün gelingen würde, ein Platzen der Koalition am Freitag zu verhindern, geht die Zitterpartie weiter. Denn eine Woche später beginnt der Parteitag der Grünen in Rostock, und es ist kaum damit zu rechnen, dass deren Basis die Politik Schörders stützt.
Quelle: ntv.de