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Wem nutzt der Dammbruch? "Risiken und Kosten eines Angriffs sind jetzt weitaus höher"

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Noch steigt das Wasser in Cherson und den umliegenden Gebieten weiter an.

Noch steigt das Wasser in Cherson und den umliegenden Gebieten weiter an.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Während Wladimir Putin die Ukrainer für den Dammbruch bei Nova Kachowka verantwortlich macht, ist der Westen von der Schuld der Russen überzeugt. Noch gibt es keine Beweise, aber laut Experte Richter haben die russischen Truppen durch die Flutwelle klare Vorteile.

ntv.de: Der Staudamm ist bei Cherson im Südwesten der Ukraine gebrochen, gekämpft wird aber weit entfernt, im Nordosten. Wie hängen beide Gebiete zusammen?

Wolfgang Richter: Wenn man einen großen Gegenangriff, eine Offensive plant, ist es auch wichtig, Ablenkungsmanöver zu führen und den operativen Schwerpunkt dann mit einem Überraschungsmoment an anderer Stelle zu setzen, wo man die Schwächen des Gegners aufgeklärt hat. Nur wenn es gelingt, eine überraschende Überlegenheit an Feuerkraft und beweglichen Verbänden in einem geplanten Durchbruchsabschnitt zu erringen, kann man operativen Erfolg haben.

Das spricht dafür, dass auch im Raum Cherson ein Angriff der Ukrainer geplant war?

Eine Überraschungsoperation der Ukrainer über den Dnipro hinweg wäre ein hoch riskantes Unternehmen gewesen, da der Fluss auch ohne Flutwelle an jener Stelle zwischen Nova Kachowka und Cherson schon mehr als einen Kilometer breit ist und die Russen sich dort zur Verteidigung eingerichtet haben.

Der Verteidigungsexperte Wolfgang Richter war Leitender Militärberater der deutschen Vertretungen bei der OSZE in Wien und bei den UN in New York. Er ist außerdem Oberst a.D.

Der Verteidigungsexperte Wolfgang Richter war Leitender Militärberater der deutschen Vertretungen bei der OSZE in Wien und bei den UN in New York. Er ist außerdem Oberst a.D.

Wie wären die Ukrainer überhaupt hinüber gekommen?

Die ukrainischen Truppen hätten den Fluss überschreiten können, indem sie leichte Einheiten mit Sturmbooten und Hubschraubern übersetzen und dann die schweren Truppen über mehrere Pontonbrücken auf das gegenüberliegende Ufer bringen. Das würde aber bedeuten: Der Angriff der schweren Kräfte würde sich auf drei bis vier Übergangsstellen konzentrieren. Und diese Konzentrationspunkte würden dann selbst wieder Angriffsziele für die russische Seite bilden. Diese Übergänge vor russischem Gegenfeuer zu schützen, wäre sehr aufwändig.

Aber möglich?

Ein Angriff über den Fluss müsste durch massives Artilleriefeuer, Raketen- und Luftangriffe gedeckt werden. Allerdings haben wir schon Übungen der Ukrainer gesehen, die genau solch ein Vorgehen auf großen Truppenübungsplätzen trainiert haben. Zu beachten ist auch, dass der Weg vom Ostufer des Dnipro zur Krim weitaus kürzer ist als der von Saporischschja zum Asowschen Meer. Ganz ausschließen lässt sich ein solcher Plan also nicht.

Und der ließe sich mit einer Flutwelle vereiteln.

Nehmen wir mal an, die Ukrainer wollten im Donbass nur ablenken und dann doch einen Überraschungsangriff im Südwesten starten, dann hätten die Russen natürlich das Ziel haben können, diesen Vorstoß zu verhindern. Und das hätten sie mit der Sprengung des Staudamms tatsächlich erreicht. Das könnte also die militärische Logik dahinter sein, wenn es sich um eine gezielte Sprengung der russischen Armee handelte.

Könnte es aber auch umgekehrt Sinn ergeben? Also, dass die Russen einen Angriff planten, den die Ukrainer verhindern wollten?

Diese Variante erscheint zwar nicht völlig ausgeschlossen, ist aber militärisch weniger plausibel. Denn die Russen stehen im Donbass in der Defensive, und sie haben ohnehin schon mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre Truppen zunehmend ausgedünnt und entkräftet sind. In dieser Situation einen militärisch so schwierigen Angriff in Richtung Cherson über den breiten Dnipro zu wagen, dürften ihre derzeitigen Ressourcen kaum zulassen.

Wenn Sie sagen, dass das Zusammenspiel von Ablenkung und Überraschung für den Erfolg einer Offensive essentiell ist, was bedeutet die Überschwemmung für die Möglichkeiten der Ukrainer in den kommenden Wochen?

Wir müssen von einer Flutwelle ausgehen, die sich mit einer Höhe von drei bis fünf Metern flussabwärts in Richtung der Dnipro-Mündung ins Schwarze Meer wälzt. Ganz abgesehen von der Katstrophe für die Bevölkerung bedeutet das aus militärischer Sicht: Der Fluss wird durch die Welle bis zur Mündung eine derartige Breite entwickeln und mit so großer Geschwindigkeit strömen, dass eine Überquerung für Militärfahrzeuge mit Pontonbrücken derzeit völlig ausgeschlossen wäre.

Und wie sieht es im Sommer aus?

Die Flutwelle wird natürlich in einigen Tagen wieder abebben. Aber sie wird zu beiden Seiten des Flusses so viel Wasser hinterlassen, dass weite Gebiete zu Schlammfeldern werden, auf denen Kettenfahrzeuge hängenbleiben. Sie werden dann weitgehend unbrauchbar für mechanisierte Bewegungen.

Das heißt, mit drei bis vier Pontonbrücken wäre es nicht mehr getan.

Man müsste die Gebiete drumherum mit entsprechendem Gerät befestigen. Diese Möglichkeiten gibt es zwar, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die ukrainische Armee sich darauf ausreichend vorbereitet hat und diese Schwierigkeiten in Kauf nehmen würde. In jedem Fall würden ukrainische Bewegungen dann kanalisiert und erheblich verlangsamt werden, während sich die Chancen für russische Gegenschläge deutlich erhöhen. Bis diese Gebiete aber wieder getrocknet sind, vergehen Wochen oder sogar Monate.

Wäre stattdessen ein Angriff aus der Luft denkbar, mit Fallschirmjägern?

Solch einen Angriff alleine mit Luftlandekräften durchzuführen, wäre selbstmörderisch. Sie könnten zwar überraschend Geländeteile nehmen und für begrenzte Zeit halten, wären aber nach einer Luftlandung nur leicht bewaffnet und nicht ausreichend geschützt, also auf schwere Folgekräfte angewiesen. Ohne sie könnten sie keine durchschlagende Offensivkraft entfalten. Auch ihre logistische Durchhaltefähigkeit wäre begrenzt. Für die ukrainischen Offensivpläne bedeutet das: Es fehlt jetzt und auf absehbare Zeit die Möglichkeit, parallel zu den Angriffen im Donbass eine zweite Front im Südwesten der Region Cherson zu eröffnen.

Wie bedeutsam ist dieses Manko für die Erfolgsaussichten?

Täuschungsmanöver bleiben ein wichtiges Element jeder Offensive: Es kommt darauf an, den Feind abzulenken, die Front zu verlängern und die schwach geschützten Stellen zu finden. An denen konzentriert man seine Kräfte dann überraschend und versucht mit Feuer und Bewegung, den Stoß in die Tiefe zu treiben. Das müsste das Ziel der Ukrainer sein, um Territorium zurückzugewinnen. Die Optionen dafür sind zwar jetzt um eine Variante geringer, aber noch nicht ausgereizt.

Für die Ukrainer gilt aber: Je länger die Front, desto besser, weil die Russen sich dann lockerer verteilen müssen?

Grundsätzlich ja, sofern die Ukraine über ausreichende Kräfte verfügt, um nicht selbst zu viele Lücken zu öffnen. Dazu kommt aber, dass die Russen in einem halbmondförmigen Ansatz im Süden und Osten um das Zentrum der Ukraine herum operieren müssen. Wollen sie sich also vom Süden in den Osten bewegen, dann führt ihr Weg außen herum, und der ist weitaus länger als für die Ukrainer. Die können ihre Truppen über die "innere Linie", also durch die Mitte des Landes verschieben.

Und nun wird die Front also im Süden kürzer und der Effekt, den die Ukrainer in Belgorod erzielt hatten, nämlich dort vorzustoßen, wo bislang noch gar nicht gekämpft wurde, und die Front bis dorthin zu verlängern, den büßen sie jetzt im Südwesten wieder ein?

Ein Überraschungsangriff kann über den Dnipro im Südwesten der Region Cherson in den nächsten Wochen nicht mehr geführt werden. Damit ist diese Front zwar nicht aufgehoben, aber die Russen könnten von dort auch einige Kräfte abziehen und als Reserven an anderen Stellen einsetzen. Allerdings kann sich die Lage dort im Spätsommer auch wieder ändern.

Wenn die Front bislang über 1000 Kilometer lang war, wieviel verliert die Ukraine durch den Dammbruch?

Zwar ist die Frontline von Nowa Kachowka bis Cherson etwa 85 Kilometer lang und von dort zur Dnipro-Mündung noch einmal 30 bis 40 Kilometer, aber natürlich besteht die Front grundsätzlich weiter, auch wenn es sich jetzt um ein unwegsames Schlammgelände und ein verbreitertes Flussbett handelt. Schwieriges Gelände ist aber nur solange ein Hindernis für einen Angriff, wie es effektiv verteidigt wird. Was sich allerdings für die Ukrainer geändert hat, ist die Option, den Fluss überraschend und schnell zu überwinden. Die Risiken und Kosten eines Angriffs sind jetzt weitaus höher und unwägbarer.

Mit Wolfgang Richter sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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