"In die Ypsilanti-Falle" Rot-Grün wagt den Kraft-Akt
17.06.2010, 19:26 Uhr
Die Grünen haben Hannelore Kraft (l.) überzeugt: Sie wird mit Sylvia Löhrmann (r.) eine Minderheitsregierung bilden.
(Foto: dpa)
Überraschung in NRW: SPD-Chefin Kraft will nun doch mit den Grünen eine Minderheitsregierung bilden. Verantwortlich dafür ist der Druck von Grünen und Bundes-SPD sowie FDP-Landeschef Pinkwart. Der fühlt sich falsch verstanden und warnt vor der "Ypsilanti-Falle". Ministerpräsident Rüttgers spricht gar von "schlimmster Wählertäuschung".
Die SPD in Nordrhein-Westfalen vollzieht überraschend einen Kurswechsel und setzt nun doch auf eine rot-grüne Minderheitsregierung. Noch vor der Sommerpause will sich die SPD-Landesvorsitzende Hannelore Kraft zur neuen Regierungschefin wählen lassen. "Der 13./14. Juli ist anvisiert", kündigte Kraft an. Bei der politischen Konkurrenz stieß die plötzliche Kehrtwende auf scharfe Kritik. Der amtierende Ministerpräsident Jürgen Rüttgers warf der SPD Wählertäuschung vor.
Kraft, die zuletzt deutliche Vorbehalte gegen eine Minderheitsregierung geäußert hatte, erklärte ihren überraschenden Kurswechsel mit Äußerungen von FDP-Landeschef Andreas Pinkwart. Der habe die Koalition mit der CDU aufgelöst. Dadurch seien instabile Verhältnisse entstanden, die rasches Handeln erforderten. "Nordrhein-Westfalen braucht eine stabilere Regierung als Rüttgers sie bieten kann", sagte Kraft. Ursprünglich wollte sie sich eine Minderheitsregierung für den Fall vorbehalten, dass nur NRW im Bundesrat zentrale Vorhaben der schwarz-gelben Bundesregierung stoppen könnte.
Pinkwart hatte der WAZ gesagt, der Koalitionsvertrag mit der CDU sei "abgearbeitet", eine Neuauflage werde es nicht geben. Die FDP werde nun eigene Mehrheiten im Landtag suchen.
"Schlimmste Wählertäuschung"
Der FDP-Landeschef wies aber ebenso wie Rüttgers Aussagen zurück, er habe die Koalition mit der CDU gebrochen und kündigte an, die FDP werde geschlossen für Rüttgers stimmen. Er warf SPD und Grünen vor, auf Drängen ihrer Bundesparteispitzen ganz bewusst in eine instabile Regierung zu gehen. Kraft sei auf Druck des SPD-Bundeschefs Sigmar Gabriel "in die Ypsilanti-Falle" getappt. "Der heutige Schritt kann nur als Akt der Verzweiflung verstanden werden", hielt er Kraft vor. "Das zeigt auch die Absurdität der Begründung für ihren Schwenk."
Rüttgers erklärte, es gebe keine Rechtfertigung für eine rot-grüne Minderheitsregierung. Krafts Argumente seien "vorgeschoben und unwahr". Die SPD-Chefin werde sich nun von der Linkspartei zur Regierungschefin wählen lassen. "Jetzt droht die schlimmste Wählertäuschung, die es je in der Geschichte Nordrhein-Westfalens gegeben hat." Bei dem Vorhaben handelt es sich nicht um eine Minderheitsregierung, sondern um eine von der Linkspartei tolerierte rot-rot-grüne Koalition." Damit machten sich SPD und Grüne "zum Spielball" und zur "Geisel" der Linkspartei, die die Regierung jederzeit zu Fall bringen könne.
Eine Stimme fehlt
Kraft hatte zunächst einen Politikwechsel aus dem Landtag heraus herbeiführen wollen. Damit wäre Rüttgers geschäftsführend im Amt geblieben. Allerdings hatten vor allem die Grünen in Land und Bund und Teile der SPD in Berlin den Druck auf Kraft verstärkt, Rüttgers schnell abzulösen. Erst am Montagabend hatte der Parteirat der NRW-SPD beschlossen, vorerst keine Minderheitsregierung anzustreben.
Rot-Grün fehlt im Landtag eine Stimme zur absoluten Mehrheit. Die Partner müssen sich bei einer Minderheitsregierung im Parlament wechselnde Mehrheit suchen und sind auf Unterstützung anderer Parteien angewiesen.
Die Vorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion, Sylvia Löhrmann, begrüßte die Kehrtwende Krafts. "Die Grünen-Verhandlungskommission hat sich einstimmig bereiterklärt, sofort Koalitionsgespräche aufzunehmen", sagte sie. Eine Minderheitsregierung sei absolut gerechtfertigt, die Wähler wollten einen Politikwechsel. Nach Angaben eines SPD-Sprechers wird sich das neue Bündnis am Dienstag treffen, um die Minderheitsregierung vorzubereiten.
Wahl ist möglich

Enthaltung zählt: Damit Kraft zur Ministerpräsidentin gewählt werden kann, dürfen nicht alle Abgeordneten von CDU, FDP und Linker gegen sie stimmen.
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SPD und Grünen fehlt zwar eine Stimme zur absoluten Mehrheit, sie verfügen aber über zehn Mandate mehr als CDU und FDP zusammen. Nur in den ersten drei Wahlgängen ist eine absolute Mehrheit nötig, im vierten Wahlgang könnte Kraft gestützt auf die Stimmen von SPD und Grünen zur Regierungschefin gewählt werden. Wenn nicht alle Abgeordneten der anderen Parteien geschlossen gegen sie stimmen.
Die schwarz-gelbe Koalition hatte bei der Wahl am 9. Mai ihre Mehrheit verloren. SPD und CDU verfügen über je 67 der 181 Sitze im Landtag. Die Grünen haben 23 Mandate, die FDP 13. Die Linkspartei stellt elf Abgeordnete.
Der Bundesrat zählt
Die Bundes-SPD steht hinter Krafts Kurswechsel. Generalsekretärin Andrea Nahles sicherte der 49-jährigen Politikerin die "volle Unterstützung" der Bundespartei zu. Grünen-Chefin Claudia Roth betonte, Schwarz-Gelb könne nun nicht mehr durchregieren. Von Rot- Grün im bevölkerungsreichsten Bundesland gehe ein Signal in der deutschen Politik aus, dass ein Wechsel möglich sei, sagte sie der "Süddeutschen Zeitung". FDP-Generalsekretär Christian Lindner nannte es dagegen gefährlich, sich auf die Unterstützung der Linkspartei zu verlassen.
Mit Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung verliert die schwarz-gelbe Koalition im Bund die Mehrheit im Bundesrat. Damit wird das Regieren für die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel deutlich schwieriger, weil zustimmungspflichtige Gesetze in der Länderkammer gestoppt werden können.
Die Folgen sind aber vorerst schwer abzuschätzen. Die Bundesregierung ist angesichts der Verhältnisse in NRW bemüht, Gesetzentwürfe so zu formulieren, dass sie nicht der Zustimmungspflicht der Länderkammer unterliegen. So ist etwa unklar, ob die geplante Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken auf Grünes Licht der Länderkammer angewiesen ist. Auch das kürzlich beschlossene Sparpaket der Bundesregierung soll in fast allen Bereichen nur ein Ja des Bundestages benötigen. Ob die Gesundheitsreform, die erst noch entwickelt werden muss, den Bundesrat passieren muss, ist ebenfalls fraglich. Klar ist, dass SPD und Grüne soweit möglich über die Länderkammer die von ihnen als unsozial und unausgewogen kritisierte Politik der Bundesregierung stoppen wollen.
Quelle: ntv.de, dpa/rts/AFP