"Die Menschen erlangen ihre Würde zurück" Russen lassen sich von Putin scheiden
03.03.2012, 17:58 Uhr
Die Ära Putins neigt sich dem Ende entgegen.
(Foto: dpa)
Russlands künftiger Präsident heißt Wladimir Putin. An diesem Wahlausgang ändern weder wachsende Unzufriedenheit noch Demonstrationen etwas. Es sei aber fraglich, ob Putin bis zum Ende der Amtszeit an der Spitze des Staates steht, sagt Wladimir Korsunskij, Chefredakteur der oppositionellen Website grani.ru.
Russlands künftiger Präsident heißt Wladimir Putin. An diesem Wahlausgang ändern weder wachsende Unzufriedenheit noch Demonstrationen etwas. Es sei aber fraglich, ob Putin bis zum Ende der Amtszeit an der Spitze des Staates steht, sagt Wladimir Korsunskij, Chefredakteur der oppositionellen Website grani.ru.
n-tv.de: Wladimir Putin wird am Sonntag zum nächsten Präsidenten Russland gewählt. Ein Wahlkampf findet nicht statt, die Wahlen sind unfair, es wird zu Manipulationen kommen, das Resultat steht im Grunde fest. Warum gehen viele Gegner Putins dennoch zur Wahl?
Wladimir Korsunskij: Die Gesellschaft wacht auf. Die Menschen fühlen ihre Würde. Das ist es, was sie auf die Straße zum Protestieren und zum Wählen treibt. 70 Jahre Kommunismus haben die Psychologie der Bevölkerung geprägt, zu einer gewissen Sklaven-Mentalität geführt. Jetzt beginnen die Menschen aufzutauen.
Haben die Proteste Putin verändert?
Nein. Er ist noch der selbe Mensch wie früher. Man kann seit Jahren aber eine Entwicklung beobachten: Er versteht immer weniger, was um ihn herum passiert. Nur ein Beispiel: Vor einigen Tage sprach Putin mit einer Gruppe von ausländischen Journalisten. Sie sagten ihm, dass er die großen Städte Moskau und St. Petersburg verloren habe. Nein, sagte Putin. Diese Sichtweise sei falsch. Er werde dort zwar von weniger Menschen unterstützt, doch es sei immer noch die Mehrheit der Bevölkerung.
Putin ist also noch der alte. Was hat sich verändert?
Der Unterschied zu früher ist, dass die Menschen ihre Würde zurückerlangen. Sie wollen Einfluss darauf nehmen, was in Russland passiert. Sie wollen mitreden. In unserer Verfassung steht geschrieben, dass das Volk mitbestimmt. Dieses Recht fordert es jetzt ein. Vor diesem Hintergrund hat sich auch etwas bei der Machtelite verändert. Wer ihr angehört, hat etwas zu verlieren – beispielsweise Geld und Einfluss. Einige versuchen nun, sich zwischen dem Kreml und der Opposition zu positionieren. Kürzlich sprach ich mit Leuten von der präsidialen Administration und von der Regierung. Der Inhalt war nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sie wollten einfach nur verstehen, was passiert und wollten wissen, ob es für sie einen Ausweg gibt.
Sie sprachen davon, dass Menschen ihre Würde wiedergefunden haben. Aber beteiligt sich nicht nur eine Minderheit an den Protesten?
Es wäre schön, wenn die gesamte Gesellschaft von dieser Veränderung erfasst würde. Es gibt zahlreiche kleine Orte in dünn besiedelten Gegenden, wo kaum jemand auf die Straße geht. Doch in den Millionenstädten Moskau und St. Petersburg leben 20 Prozent der Bevölkerung. Wenn Sie die anderen größeren Städte wie etwa Nowosibirsk oder Krasnojarsk dazunehmen, unterstützt etwa die Hälfte der Bevölkerung Putin nicht. Vergleichen Sie das mit den Anstrengungen, die Putin unternommen hat. Er hat zwei größerer Unterstützer-Veranstaltungen organisiert. Das hat Milliarden Rubel gekostet. Schauen Sie sich die Resonanz an, sie ist beschämend. Menschen aus dem ganzen Land wurden dorthin gebracht. Und die Leute, die hier in Moskau protestieren, wurden im Gegensatz dazu nicht bezahlt. Mich verstören die organisierten Kundgebungen für Putin. Denken Sie an diese Frauen unterschiedlichen Alters, die daran teilnehmen. Sie stehen da für mehrere Stunden, um die versprochen 300 Rubel zu bekommen. Das zeigt, wie arm sie sind. Das macht mich traurig.
Haben Sie die Proteste überrascht?
Ich habe sie erwartet und war zugleich überrascht und beeindruckt. Mich hat verblüfft, dass es nicht eher zu solchen Ereignissen gekommen ist. Ich wundere mich, warum das nicht ein Jahr nach dem Beginn der ersten Präsidentschaft Putins passierte. Denn spätestens dann war klar, wohin die Reise geht.
Russland ist eine so genannte "Gelenkte Demokratie". Demnach darf keine Opposition außerhalb des Systems stattfinden. Wird Putin deshalb nicht versuchen müssen, die Protestierenden wieder ins System einzugliedern?
Mit dem Versuch wird er nach der Wahl beginnen. Aber ich hoffe, dass ihm das nicht gelingen wird.
In Moskau ist der Ruf nach fairen Wahlen zu hören. Doch Putin ist der beliebteste Politiker des Landes und würde deshalb wohl auch faire Wahlen gewinnen...
Seine Popularität ist das Resultat eines Propaganda-Apparats. Diese Propaganda schafft ein Image, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Ist es nicht merkwürdig, wenn man die Menschen, die angeblich für die Putin-Partei "Einiges Russland" gestimmt haben, plötzlich auf der Straße demonstrieren sieht? Wenn wir von fairen Wahlen sprechen, dann meinen wir, dass es unterschiedliche Kandidaten gibt, denen die Möglichkeit gegeben wird, miteinander im Fernsehen zu diskutieren. Putin wäre es dann nicht erlaubt, seine administrative Ressourcen für den Wahlkampf zu nutzen. In wirklich fairen Wahlen würde er nicht einmal fünf Prozent der Stimmen bekommen. Er würde niemanden überzeugen.
Putin wird eine dritte Amtszeit bekommen. Ist es seine letzte?
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie die vollen sechs Jahre dauern wird. Hier findet gerade eine Scheidung statt – zwischen der Bevölkerung und den Menschen an der Macht. Sie wurde im Dezember eingereicht. Die Trennung wird nach den Wahlen an Härte gewinnen.
Es gibt also keinen Weg zurück?
Ich würde gerne hoffen, dass die Menschen an der Macht das erkennen und weise genug sind, Dummheiten zu vermeiden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich die Opposition radikalisert.
Das Internet scheint bei den Protesten eine große Rolle zu spielen. Durch Facebook & Co merkten die Unzufriedenen, dass sie nicht alleine sind...
Zunächst spielte das Internet tatsächlich die Hauptrolle. Doch nun kennen sich die Menschen, sie haben informelle Netzwerke und Kontakte. Für die Menschenkette am Gartenring haben sich auf Facebook 8000 Menschen angemeldet. Aber es kamen viel mehr.
Ist es nicht denkbar, dass das Internet deshalb künftig zensiert wird?
Da ist schon eine Gefahr, dass Russland in diesem Sinne wie Nordkorea werden. Aber die Gesellschaft hier ist schon aufgewacht. Wenn wir kein Facebook mehr haben, dann werden wir nicht Pinnwände, sondern die Häuserwände nutzen. In den vielen Städten Russland gibt es – nebenbei gesagt - ziemlich viele Häuserwände.
Wen wählen die Unzufriedenen?
Der Großteil der Protestierenden wird Prochorow wählen. Sie wollen, dass die Macht wechseln kann. Sie wählen damit eine konkrete Person. Wenn es dann Fälschungen gibt, haben sie dann die Möglichkeit, sich konkret zu beschweren, vor Gericht zu ziehen. Nur wenn Prochorow gewinnen würde, würde das Team der Macht anders aussehen als bisher. Er hat anderes Geld, andere Investoren, andere Verpflichtungen gegenüber anderen Leuten.
Wäre das ein Wechsel zum Besseren oder zum Schlechteren?
Es wäre ein Wechsel. Hoffentlich zum Besseren. Schlechter kann es ja nicht werden, wir haben einen Halbstarken an der Macht, keinen Erwachsenen. Es ist immer besser, wenn an der Spitze ein Geschäftsmann und kein Militär oder Geheimdienstler steht. Ein Geschäftsmann baut etwas auf. Die anderen können sich nur auf einen Krieg vorbereiten.
Mit Wladimir Korsunskij sprach Nikolas Roerich.
Quelle: ntv.de