Moskaus Informationskrieg "Russische Geheimdienste schaffen Netzwerke falscher Identitäten"
15.07.2023, 10:22 Uhr Artikel anhören
Mitglieder des FSB bei der Verhaftung eines Ukrainers - russische Geheimdienste befeuern den Krieg auch durch Falschnachrichten (Archivbild).
(Foto: picture alliance/dpa/Russian Federal Security Service)
Die NATO soll die Invasion in die Ukraine provoziert, Kiews Armee das Massaker in Butscha verübt haben - mit diesen Behauptungen führt Russland seinen Informationskrieg. Auf welche Taktiken Moskau setzt, erklärt Lutz Güllner, Leiter der East StratCom Task Force, im Interview. Die Task Force ist Teil des Europäischen Auswärtigen Dienstes, sie deckt im Auftrag der EU Desinformation auf. Dabei kämpfen sich Güllner und seine Kollegen durch ein dichtes Netz von Geheimdiensten, Medien, Diplomaten und privaten Akteuren wie den Chef der Söldner-Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin.
ntv.de: Der Kreml hat vor Kurzem behauptet, ukrainische Truppen bereiteten einen Angriff auf das AKW Saporischschja vor. Experten sehen das als Vorzeichen dafür, dass Moskau selbst eine Attacke plant. Russland bedient sich oft dieser Methode der Projektion eigener - geplanter oder begangener - Gräueltaten auf den Kriegsgegner. Warum?
Lutz Güllner: Russland geht es nicht darum, einen eigenen Standpunkt zu verbreiten. Es geht darum, zu täuschen, abzulenken und neue Narrative in die Welt zu setzen. Die Referenz zu dem, was man liest oder hört, wird von der Wirklichkeit abkoppelt. Man versteht Desinformation manchmal als Fake News. Es ist aber komplexer: Manchmal geht es nicht um richtig oder falsch, sondern darum, die Lufthoheit im Informationsraum zu haben, um ein Narrativ zu setzen. Bei der russischen Taktik gibt es den Spiegeleffekt, das heißt, man projiziert die Kritik, die man selbst bekommt, auf andere wie bei dem Massaker in Butscha. Da wurde das Narrativ aufgenommen, die ukrainische Armee habe es verübt und es sollte den russischen Truppen in die Schuhe geschoben werden. Das heißt aber nicht, dass die russische Seite alles, was sie den Ukrainern vorwirft, automatisch selbst in die Tat umsetzen wird.
Ein beliebtes Narrativ in der Propaganda, die der Kreml verbreitet, ist die Schuld des Westens am Krieg in der Ukraine. Wie schafft es Moskau hierzulande, mit solchen Behauptungen zu Menschen durchzudringen?
Zwei Elemente kommen da zusammen. Einerseits bedient man bewusst Zielgruppen, die eine gewisse Vulnerabilität haben oder auf bestimmte Narrative anspringen. Das betrifft zum Beispiel Menschen, die der NATO gegenüber skeptisch sind. Diese Skepsis ist ja an sich kein Problem, sie ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Das Problem ist, dass man gezielt auf diese Menschen zugeht und dieses Narrativ füttert: 'Die NATO hat Russland eingekesselt, sie ist der Aggressor und deswegen musste man sich wehren.' Es gibt gebetsmühlenartigen Wiederholungen solcher Narrative, die sich irgendwann verfestigen. Nehmen Sie das Narrativ von dem sogenannten 'Nazi-Regime' in Kiew, was an Absurdität kaum zu übertreffen ist. Es wird so oft wiederholt, bis sich jeder daran erinnert. Das heißt nicht, dass die Leute daran glauben, aber sie sind vertraut mit diesem Narrativ. Diese Vertrautheit ist der erste Schritt in Desinformationskampagnen.
Wie geht Russland vor, wenn es Propaganda verbreiten will?
Man muss von der Idee wegkommen, dass Desinformation einzig die Sichtweise des Kremls wiedergebe und man sie deswegen als Propaganda einstufen sollte. Für das tatsächliche Problem benutzen wir das Wort Informationsmanipulation. Diese Manipulation hat vier Standbeine. Das erste Standbein ist alles, was der russische Staatsapparat macht. Dazu gehören die offiziellen Repräsentanten, wobei das diplomatische Netzwerk auch relevant ist. Zweitens spielen die staatlich kontrollierten Medien eine wichtige Rolle. Das dritte Standbein ist das, was wir als Desinformations-Ökosystem bezeichnen. Der Chef der Söldner-Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, ist mittlerweile allen bekannt. Er hat ein Medien-Imperium aufgebaut, darunter die sogenannte Internet Research Agency, die im Wahlkampf in den USA 2016 aktiv war. Sie existiert in neuer Form wahrscheinlich noch immer. Das vierte Standbein sind Geheimdienstoperationen. Die russischen Geheimdienste sind in sozialen Medien aktiv, wo sie Netzwerke falscher Identitäten schaffen. Einerseits kann man Informationen so einfach generieren, andererseits die Desinformationskampagnen schnell verstärken.
Prigoschin hat es auch vor dem Putschversuch seiner Wagner-Söldner Ende Juni immer wieder in die internationalen Schlagzeilen geschafft. Wie verbreitet er Desinformation?
Er hat Unternehmen und Strukturen geschaffen, die Informationsmanipulation betreiben. Seine Internet Research Agency ist älter, hat wahrscheinlich den Namen und den Ort geändert. Es ist nicht einfach, das herauszufinden, weil sie natürlich nicht ins Handelsregister eingetragen ist, da sie verdeckte Operationen ausführt. Dort waren Dutzende von Leuten beschäftigt. Sie haben nichts anderes gemacht, als Desinformationskampagnen zu entwerfen und weiterzuentwickeln. Diese Strukturen wurde verändert über die Zeit, aber sie ist immer noch aktiv. Auch die Wagner-Gruppe ist nicht nur eine militärische Organisation, sondern hat auch gezielt in den Informationsbereich investiert, hat zum Beispiel Zeitungen, Radios gekauft. Das heißt, sie hat auch eigene Kanäle und Werkzeuge geschaffen, um Desinformation zu produzieren und zu verbreiten.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz (KI) bei Desinformation?
Künstliche Intelligenz hat schon immer eine Rolle gespielt. Die Bots, die Desinformation verbreiten, sind quasi die erste Form dieser technischen Entwicklung. Nun gibt es einen weiteren Schub bei der Automatisierung. Die Produktion wird leichter und schneller. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Die Frage ist: Wann kann KI eingesetzt werden, um noch einen Schritt weiterzugehen? Es kann sein, dass Deep Fakes als Videomaterial künftig so perfekt generiert werden, dass man keinen Unterschied zu Originalen sieht. Ich habe ein Fünkchen Hoffnung, dass die Entwicklung von KI, die man für Desinformation benutzt, sich in ähnlichem Tempo entwickelt wie KI, mit der man Desinformation entlarvt.
Auf der Website der East StratCom Task Force klären Sie und Ihre Kollegen in 15 Sprachen über russische Desinformation auf, in einer Datenbank werden Tausende Beispiele mit Faktenchecks aufgelistet. Welche weiteren Aufgaben hat Ihr Team?
Wir haben drei Aufgaben. Erstens wollen wir die Manipulationen aufdecken, mit konkreten Quellen und Beispielen. Unsere Datenbank hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist eine Illustration von Taktiken. Zweitens geht es in der EU auch um Regulierung, wer also dafür Verantwortung tragen muss, was in sozialen Netzwerken passiert. Drittens gibt es Instrumente, die wir gezielt einsetzen können, wie zum Beispiel Sanktionen. Sie wurden gegen die russischen Propaganda-Sender RT und Sputnik verhängt, weil es sich hier um Instrumente des russischen Staates handelt, die er einsetzt, um den Angriffskrieg zu unterstützen. Klar ist, dass unser Team allein das Problem nicht lösen wird. Wir arbeiten eng mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen, damit der Umgang mit Desinformation und Informationsmanipulation zu einem Thema wird, das von der ganzen Gesellschaft angegangen wird.
Wie können sich einzelne Nutzer gegen Desinformation wappnen?
Auf individueller Ebene ist ein kritisches Herangehen an Informationsquellen wichtig. Dabei sollte man sich die Fragen stellen: Wo kommt die Information her, wer hat ein Interesse dran diese zu verbreiten? Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass man automatisch allen Medien misstrauen muss. Denken Sie an den Begriff 'Lügenpresse'. Im Übrigen ist das auch eine Zielsetzung von Desinformationsakteuren, dass sie die gesamte Medienlandschaft diskreditieren wollen. Im Gegensatz dazu muss man einen gesunden Reflex entwickeln und Informationen hinterfragen, in sozialen und auch klassischen Medien. Im Bildungsbereich muss digitale Medienkompetenz geschult werden, und zwar nicht nur bei jungen, sondern auch bei älteren Menschen. Dabei leistet die East StratCom Task Force Aufklärungsarbeit. Wir wollen den Leuten nicht sagen, was sie denken sollen. Wir wollen sie vor der Manipulation durch verschiedene Akteure warnen.
Mit Lutz Güllner sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de