Politik

Etwa 2000 Tote in Kirgisistan Russland schickt Truppen

Zum Schutz strategisch wichtiger Einrichtungen entsendet Russland Truppen in das von Unruhen erschütterte Kirgisistan. Friedenssoldaten sollen jedoch nicht in das Land kommen, heißt es. Nach Angaben der kirgisischen Übergangsregierung muss mit 2000 Toten nach den ethnischen Kämpfen gerechnet werden.

Nach den blutigen Unruhen in Kirgisistan hat sich Russland nun doch zum Einsatz von Militärs in dem Land entschlossen. "Russische Soldaten werden bestimmte strategische Einrichtungen in Kirgisistan bewachen", sagte die kirgisische Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa im staatlichen Rundfunk. "Diese Entscheidung ist getroffen worden, um die Sicherheit dieser Einrichtungen zu garantieren." Dennoch müsse das Land seine inneren Probleme selber lösen, sagte der russische Staatschef Dmitri Medwedew.

Usbekische und kirgisische Truppen patrouillieren gemeinsam im Grenzgebiet der beiden Staaten.

Usbekische und kirgisische Truppen patrouillieren gemeinsam im Grenzgebiet der beiden Staaten.

(Foto: AP)

Der Generalsekretär der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), Nikolai Bordjuscha, sagte, das Militärbündnis ehemaliger Sowjetrepubliken werde Spezialkräfte nach Kirgisistan entsenden, die dort Ausschreitungen verhindern und Terroristen jagen sollen. Es würden auf keinen Fall Friedenssoldaten in das zentralasiatische Land geschickt. Nach dem Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und der ethnischen Minderheit von Usbeken, die in Kirgisistan leben, hatte Otunbajewa Russland bereits vor knapp einer Woche um militärischen Beistand gebeten. Dieses Ansinnen wurde von der Führung in Moskau jedoch zurückgewiesen.

"Die offiziellen Zahlen mal zehn nehmen"

Derweil hat die kirgisische Übergangspräsidentin Otunbajewa die von Gewalt erschütterte Stadt Osch im Süden des Landes besucht und die mögliche Zahl der Opfer deutlich nach oben korrigiert. "Wir werden alles tun, um die Stadt wieder aufzubauen", sagte die mit einer schusssicheren Weste bekleidete Otunbajewa. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte die Zahl der von der Krise Betroffenen auf bis zu eine Million.

Otunbajewa nach ihrer Landung in Osch.

Otunbajewa nach ihrer Landung in Osch.

(Foto: AP)

"Ich würde die offiziellen Zahlen mal zehn nehmen", sagte die Interimsregierungschefin der russischen Zeitung "Kommersant". Es habe viele Tote auf dem Land gegeben, die nach Landessitte noch vor Sonnenuntergang begraben worden seien. Diese Toten würden den Behörden oft gar nicht gemeldet. Bislang war die Totenzahl offiziell mit mindestens 191 angegeben worden. Fast 2000 Menschen wurden demnach bei den Kämpfen zwischen Kirgisen und Angehörigen der usbekischen Minderheit verletzt.

Resolution des Sicherheitsrates

Der UN-Sicherheitsrat forderte eine "umfassende und transparente" Aufklärung der Gewaltwelle. Die Resolution wurde von den USA gemeinsam mit der derzeitigen Führung Kirgisistans ausgearbeitet und in das höchste UN-Gremium eingebracht. Dem Beschluss zufolge soll die kirgisische Regierung dafür sorgen, dass die für den Tod von Menschen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Eileen Chamberlain Donahoe, wertete den raschen Beschluss als Zeichen der Handlungsfähigkeit des UN-Sicherheitsrates.

Allerdings können die UN die Vereinten Nationen im Süden des Landes kaum arbeiten. Das Büro in der Stadt Osch müsse vorerst geschlossen bleiben, sagte der UN-Sonderbeauftragte für die Region, Miroslav Jenca, in Bischkek. "Wir können uns ohne bewaffneten Schutz nicht in die Stadt wagen, das wäre unverantwortlich", sagte der slowakische Diplomat. Nach Jencas Angaben gibt es auch "Überlegungen" über eine "internationale Präsenz" in der Region. "Viele hier würden das befürworten", sagte der Diplomat, ohne aber deutlich zu machen, ob mit "viele" die Einwohner des Landes oder die UN-Experten gemeint sind.

Lage beruhigt sich etwas

Lautsprecher mit dem Einschlag einer Kugel an einem Minarett in Osch.

Lautsprecher mit dem Einschlag einer Kugel an einem Minarett in Osch.

(Foto: AP)

In Osch, dem Zentrum der blutigen Zusammenstöße sagte Otunbajewa: "Es ist nicht so, dass wir die Wahrheit verschweigen, sondern wir haben auch keine anderen Zahlen." Sie sei in die Stadt rund 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Bischkek gekommen, "um mit den Menschen zu sprechen und aus erster Hand zu erfahren, was hier passiert", sagte sie im Stadtzentrum. Sie wies Kritik zurück, die Regierung habe die Eskalation der ethnischen Konflikte nicht verhindert. "Lasst uns ein wenig Hoffnung! Hört auf zu sagen, wir hätten nichts getan", sagte sie in Osch.

Ein Sprecher des UN-Menschenrechtskommissariats sagte, die Unruhen könnten "aus politischen oder kriminellen Motiven" geschürt worden sein. Die Übergangsregierung vermutet, dass der gestürzte Präsident Kurmanbek Bakijew die pogromartigen Krawalle angezettelt hat, um die Übergangsregierung zu destabilisieren. Der UN-Sondergesandte Jenca sagte, der Konflikt könne ganz Zentralasien bis an die Grenzen zu Afghanistan radikalisieren.

Nach Angaben der Übergangsregierung hat sich die Lage mittlerweile ein wenig beruhigt. Trotz vereinzelter Feuergefechte stabilisiere sich die Situation im unruhigen Süden des Landes, sagte Vizeregierungschef Asimbek Beknasarow in der Hauptstadt Bischkek. An einer für Ende Juni geplanten Volksabstimmung über eine neue Verfassung will die Übergangsregierung festhalten. Mit dem Referendum über eine Verfassung nach deutschem Vorbild sollen demokratische Strukturen in dem Hochgebirgsland gefestigt werden.

Vor allem Frauen, Kinder und Ältere betroffen

Flüchtlinge in einem Lager an der kirgisisch-usbekischen Grenze.

Flüchtlinge in einem Lager an der kirgisisch-usbekischen Grenze.

(Foto: AP)

Nach Schätzungen der WHO könnten eine Million Menschen durch die Katastrophe "direkt oder indirekt" betroffen sein. Es handele sich bei dieser Zahl um ein "Katastrophen-Szenario", sagte der WHO-Koordinator für Hilfsprogramme, Giuseppe Annunziata, in Genf. Danach könnten bis zu 300.000 Menschen zu Flüchtlingen werden, die das Land verlassen, und bis zu 700.000 Menschen zu Binnenflüchtlingen. Die zentralasiatische Republik hat gut fünf Millionen Einwohner.

Das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) hatte am Donnerstag in Genf mitgeteilt, es gehe mittlerweile von mindestens 400.000 Flüchtlingen und Vertriebenen aus. Eine Sprecherin des UN-Kinderhilfswerks UNICEF hob die besonders prekäre Lage für Frauen, Kinder und Ältere hervor. Rund 90 Prozent der Flüchtlinge seien Frauen und Kinder, die sich in einer "sehr schlechten physischen und psychischen Lage" befänden. Viele hätten Gewalt erlebt oder beobachtet, auch von dutzenden Vergewaltigungen war die Rede.

Sorge vor Erstarken der Islamisten

Der für Süd- und Zentralasien zuständige Abteilungsleiter im US-Außenministerium, Robert Blake, forderte die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchung der ethnischen Konflikte. Er lobte nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers im Nachbarland Usbekistan die Arbeit der usbekischen Regierung bei der Hilfe für die Flüchtlinge. Die Menschenrechtsorganisationen Crisis Group und Human Rights Watch forderten in einem gemeinsamen Brief den UN-Sicherheitsrat auf, "sofortige Schritte" zu unternehmen.

Die USA und Russland äußerten die Sorge, das zentralasiatische Land könnte zu einer Brutstätte für radikale Islamisten werden. Sollte das Volk den Glauben an die Regierung verlieren, könnte sich das Land wie Afghanistan unter den Taliban entwickeln, warnte Russlands Präsident Medwedew im Gespräch mit dem "Wall Street Journal".

Quelle: ntv.de, AFP/dpa/rts

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