Politik

Der 9. Kriegstag im Überblick Selenskyj: "Wenn wir fallen, fällt Europa" - Moskau blockiert letzte freie Medien

232e6c5f2a5bfe4f9985f4812f86be22.jpg

Am neunten Tag des Ukraine-Krieges rückt die russische Armee auf das größte Atomkraftwerk Europas vor. Aus der Hauptstadt Kiew gibt es einen Hilferuf, um der Zivilbevölkerung die Flucht zu ermöglichen. Putin verhandelt nicht mit Selenskyj, sondern telefoniert mit Scholz. Ein Überblick.

Russisches Militär nimmt größtes Atomkraftwerk Europas ein

Nach intensiven Gefechten haben die russischen Streitkräfte am neunten Tag des Angriffskriegs gegen die Ukraine das größte Atomkraftwerk Europas örtlichen Angaben zufolge eingenommen. Ein bei den Kämpfen ausgebrochenes Feuer an dem Meiler in Saporischschja sei gelöscht, teilten die ukrainischen Behörden weiter mit. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnte, sollte das Kraftwerk explodieren, wären die Folgen zehnmal schlimmer als bei dem Super-GAU von Tschernobyl 1986. Die Lage sei zwar angespannt, das Kraftwerk aber funktionsfähig und laufe derzeit mit sehr eingeschränkter Kapazität.

Saporischschja produziert mehr als ein Fünftel des Stroms in der Ukraine. Laut Internationaler Atomenergie-Organisation wurde die Anlage mit russischer Munition beschossen. Großbritannien und Frankreich gehen von einem vorsätzlichen Angriff aus. "Dies ist das erste Mal, dass ein Staat ein (mit Brennstäben) bestücktes und funktionierendes Atomkraftwerk angegriffen hat. Und es ist eindeutig durch das Völkerrecht und die Genfer Konventionen verboten", sagte die britische UN-Botschafterin Barbara Woodward vor einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats in New York.

Der französische UN-Botschafter Nicolas de Rivière sagte, der Vorfall "impliziert einen Angriff" auf das Atomkraftwerk. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete das russische Vorgehen gegen das Atomkraftwerk als rücksichtslosen Kriegsakt. "Das zeigt einfach, wie gefährlich dieser Krieg ist."

Mariupol offenbar eingekesselt - Kiew bittet um Fluchthilfe für Zivilbevölkerung

Die südukrainische Hafenstadt Mariupol ist indes inzwischen komplett eingeschlossen. Das verlautete aus einem Bericht der ukrainischen Armee. Nach britischen Angaben befindet sich die Stadt aber nach wie vor unter Kontrolle der ukrainischen Truppen. Die zivile Infrastruktur sei intensivem Beschuss durch das russische Militär ausgesetzt, heißt es. Der Bürgermeister der Schwarzmeerstadt hatte gestern mitgeteilt, dass die russische Armee alle Brücken und Züge zerstört habe, "um unsere Frauen, Kinder und alten Menschen an der Flucht zu hindern".

Kiew bat außerdem das Internationale Rote Kreuz um Hilfe bei der Einrichtung von Fluchtkorridoren für Zivilisten. "Alte Leute, Frauen und Kinder erhalten keine medizinische Hilfe, Babys werden in Kellern geboren, und das erste, was sie in ihrem Leben hören, das ist das Geräusch von Explosionen", sagte Vizeregierungschefin Olha Stefanischtschyna einer Mitteilung zufolge. Die Menschen hätten nichts zum Essen und kein Trinkwasser. Viele, die im Land geblieben seien, hätten Behinderungen und chronische Krankheiten. Kiew habe alle notwendigen Anfragen zur Schaffung spezieller Korridore an internationale Organisationen gestellt. "Leider hat es dafür keine Zustimmung der russischen Seite gegeben", sagte die 36-Jährige.

Es handele sich dabei vor allem im Norden und Osten um die Gebiete Sumy, Tschernihiw, Charkiw und dort insbesondere um die Gebietshauptstädte. Betroffen seien auch die Kleinstädte nördlich der Hauptstadt Kiew, im Süden Teile der Gebiete Mykolajiw, Saporischschja, Cherson und im ostukrainischen Donbass um die Region zwischen der Hafenstadt Mariupol und der Kreisstadt Wolnowacha.

NATO-Generalsekretär Stoltenberg stellte eine düstere Prognose: "Die nächsten Tage werden wahrscheinlich noch schlimmer werden", sagte er nach Beratungen der NATO-Außenminister. Stoltenberg wirft Russland vor, Streubomben und andere Waffen einzusetzen, die das Völkerrecht verletzen.

Putin möchte nicht mit Selenskyj persönlich verhandeln

Neun Tage nach dem russischen Einmarsch planen die angreifenden Russen und die sich verteidigenden Ukrainer für das Wochenende eine dritte Verhandlungsrunde. Diese "kann morgen oder übermorgen stattfinden, wir sind in ständigem Kontakt", teilte der ukrainische Unterhändler Mychailo Podoljak mit. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte derweil, dass Russlands Präsident Wladimir Putin derzeit nicht die Absicht habe, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu treffen: "Jetzt ist nicht die Zeit dafür."

Ohnehin fordert die Ukraine für die Gespräche internationale Vermittlung. "Wir vertrauen der Russischen Föderation überhaupt nicht, deshalb wollen wir einen verantwortungsbewussten internationalen Vermittler haben", sagte Podoljak der Agentur Unian zufolge. Die Gespräche würden vermutlich erneut in Belarus stattfinden, weil die russische Seite andere Vermittlerstaaten ablehne. Podoljak kritisierte erneut die Rolle des nördlichen Nachbarlandes "als Sprungbrett für Attacken".

Podoljak betonte zudem, dass die Ukraine harte russische Forderungen nicht erfüllen werde. "Präsident Selenskyj wird keinerlei Zugeständnisse machen, die auf die eine oder andere Weise unseren Kampf herabwürdigen, der heute in der Ukraine um ihre territoriale Unversehrtheit und die Freiheit geführt wird." Russland habe Selenskyj und die Ukraine unterschätzt und seine eigenen Möglichkeiten überschätzt.

Scholz telefoniert eine Stunde lang mit Putin

Putin wiederum bekräftigte laut Kreml in einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz seine Haltung, ein Ukraine-Friedensdialog sei nur dann möglich, wenn "alle russischen Forderungen" erfüllt würden. Der russische Präsident wiederholte in dem Gespräch seine Forderungen und verlangte unter anderem eine "Demilitarisierung" und "Entnazifizierung" der Ukraine. Das Holocaust Memorial in Washington hatte zuvor stellvertretend für die vielfache Kritik an diesen Forderungen erklärt, Putin "verzerrt und verdreht die Geschichte", indem er "fälschlicherweise behauptet, die demokratische Ukraine müsse entnazifiziert werden".

Scholz äußerte sich laut Regierungssprecher Steffen Hebestreit in dem Telefonat sehr besorgt über die Lage in der Ukraine und rief "die russische Führung zur sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen" auf. Auch hätten Putin und Scholz vereinbart, zeitnah weitere Gespräche zu führen.

Russland blockiert unabhängige Medien, Facebook und Twitter

Das Onlineangebot der Deutschen Welle (DW) und weiterer westlicher Medien ist in Russland nicht mehr abrufbar. Wie der deutsche Auslandssender unter Berufung auf seine Cybersecurity-Experten mitteilte, war "dw.com" seit der Nacht zu Freitag in allen Sendesprachen in Russland gesperrt. DW-Intendant Peter Limbourg richtete sich in einem Brief an russische Nutzer: "Ich bedaure das sehr und bitte Sie, wenn möglich, Mittel der Internet-Blockadeumgehung zu benutzen, um unsere Programme zu erreichen." Dazu ergänzte der Sender Beiträge rund um technologische Möglichkeiten, um eine Sperre zu umgehen.

Von der Blockade war nicht nur die Deutsche Welle betroffen. Wie die BBC berichtete, war auch der Zugang zu deren eigener Nachrichtenwebsite sowie zu mehreren anderen westlichen Medien, Facebook und dem Google Playstore ganz oder teilweise eingeschränkt. Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor begründete den Schritt der Nachrichtenagentur Interfax zufolge mit einer angeblichen Verbreitung von Falschnachrichten über "die Spezial-Militäroperation" in der Ukraine. So wird in Russland der Krieg gegen das Nachbarland bezeichnet.

Auch Facebook und Twitter sind von Russland aus nicht mehr erreichbar. Es handele sich um eine Reaktion auf die Abschaltung mehrerer russischer Medien-Seiten bei Facebook, teilte Roskomnadsor mit.Die Agentur Interfax meldete wenig später, dass Twitter ebenfalls nicht mehr aufgerufen werden könne. Nutzer von Twitter in Moskau bestätigten, dass das Netzwerk auf Mobiltelefonen nicht mehr funktionierte. Besonders intensiv genutzt wird derweil der Nachrichtenkanal Telegram, den russische Behörden bisher nicht haben technisch einschränken können.

Neues Mediengesetz: BBC stellt Berichterstattung aus Russland komplett ein

Wenige Stunden nach der Blockade teilte die BBC mit, als Konsequenz aus dem Erlass eines neuen Mediengesetzes in Russland jegliche Form von Berichterstattung auf dem Gebiet der Russischen Föderation einzustellen. "Diese Gesetzgebung scheint den Prozess des unabhängigen Journalismus zu kriminalisieren", wird BBC-Generaldirektor Tim Davie dazu zitiert. Die Sicherheit der Mitarbeiter gehe vor. "Wir sind nicht bereit, sie dem Risiko der Strafverfolgung auszusetzen, nur weil sie ihren Job machen." Das BBC-Nachrichtenprogramm in russischer Sprache werde jedoch von außerhalb Russlands weiter betrieben. Ebenso werde die Berichterstattung aus der Ukraine fortgesetzt.

Das russische Parlament hatte am Vormittag für eine Gesetzesänderung gestimmt, mit der die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russischen Streitkräfte mit hohen Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft bestraft werden kann. So ist es Medien in Russland seit vergangener Woche verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie "Angriff", "Invasion" und "Kriegserklärung" zu verwenden.

Ukraine soll drei russische Attentate auf Selenskyj abgewendet haben

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat in der vergangenen Woche womöglich gleich drei Attentatsversuche auf sein Leben überstanden. Russland habe zwei unterschiedliche Truppen entsandt, um den Staatschef der Ukraine zu töten, meldet die britische "Times", ohne konkret anzugeben, aus welchem Umfeld diese Informationen stammen.

Bei den Attentätern soll es sich um die russische Söldnergruppe Wagner handeln und eine paramilitärische Einheit von Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow. In den vergangenen Tagen war bereits mehrfach berichtet worden, dass sie in größerer Zahl nach Kiew geschickt wurden, um Selenskyj auszuschalten. Seine Absetzung gilt mit als wichtigstes Kriegsziel des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Per Liveschalte wendete sich Selenskyj am Abend an Zehntausende Demonstranten in mehreren europäischen Städten. In einer kurzen Ansprache rief er die Menschen, die sich unter anderem in Frankfurt, Prag und Tiflis versammelt haben, zu einer Schweigeminute für die Opfer des Krieges auf. Zugleich bat er um eine weitere Unterstützung der Ukraine und warnte eindringlich vor den Folgen des Krieges: "Wenn die Ukraine nicht standhält, wird Europa auch nicht standhalten. Wenn wir fallen, fällt Europa."

Weitere Artikel zum Ukraine-Krieg:

Alle weiteren Entwicklungen des Tages können Sie in unserem Liveticker zum Ukraine-Krieg nachlesen.

Quelle: ntv.de, tsi/rts/dpa/AFP

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen