Politik

Ampel setzt zum großen Sprung an Sondierer im Rausch des Moments

Nächtliche Marathonverhandlung, durchorchestrierte Ergebnispräsentation und sehr viel Pathos: Die Spitzenvertreter von SPD, Grünen und FDP empfehlen ihren Parteien denkbar enthusiastisch, in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Doch dort erwarten die Koalitionäre in spe noch reichlich Konflikte.

Es gibt ihn tatsächlich, den kurzen Moment, in dem sich Olaf Scholz ausnahmsweise mal nicht im Griff hat. Als sich um ihn herum die Parteivorsitzenden von SPD, FDP und Grünen vor den wartenden Mikrofonen aufstellen, um gleich den Erfolg ihrer Sondierungsgespräche zu verkünden, grinst der wahrscheinliche nächste Bundeskanzler. Es ist ein Siegergrinsen; ganz unzweideutig Ausdruck von Triumph und Vorfreude. Kurz darauf hält wieder die unbewegte Miene der Ernsthaftigkeit Einzug: Scholz wie auch seine Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, die Grünen-Spitze aus Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie FDP-Chef Christian Lindner sind sich der Größe dieses Augenblicks bewusst.

Diesen letzten wichtigen Auftritt nach wohl langen nächtlichen und mutmaßlich nervenzehrenden Verhandlungen stehen sie alle mit der gebotenen Professionalität durch: Sie präsentieren der deutschen wie internationalen Presseschar wohl aufeinander abgestimmte Sätze über den großen Aufbruch, der nun für Deutschland anstehe. Oder etwas kleiner: Sie verkünden die ohnehin allseits erwartete Empfehlung an ihre Parteien, in Koalitionsverhandlungen zu treten.

"Tatsächlich ist es gelungen: Wir haben uns auf ein Papier, einen Text zur Sondierung verständigt", sagt Scholz und spricht von einem sehr guten Ergebnis. Die Überschriften für diese Koalition, die alle sechs Verhandlungsvertreter aufrufen, lauten "Fortschritt", "Modernisierung", "Aufbruch". All das Trennende, das die Parteien in den vergangenen Monaten des Wahlkampfes überbetont haben, weicht damit dem ausschließlich nach vorn gerichteten Blick auf das, was gemeinsam möglich sein könnte. Lindner, dem nach eigenen Bekunden noch im September die Fantasie zur Ampel fehlte, sieht nun die "Chance, dass eine mögliche Koalition größer als die Summe ihrer Einzelteile" werden könne. 19 Tage nach der Bundestagswahl überbetonen die künftigen Koalitionäre eben das Gemeinsame, auch wenn das zum Teil mehr im Stil und der persönlichen Sympathie für einander als in der inhaltlichen Substanz zu finden ist.

Lindner setzt gelben Stempel aufs Papier

Ein Blick auf das 13-seitige Sondierungspapier, das die ersten Verabredungen zu den Grundlagen einer Ampel-Regierung festschreibt, zeigt sehr wohl das Trennende: nämlich, was von den diversen Wahlversprechen alles nicht kommen wird. SPD und Grüne werden keine Vermögenssteuer einführen, den Spitzensteuersatz nicht anheben, die private Krankenversicherung nicht abschaffen, kein Tempolimit einführen und auch nicht die Schuldenbremse dahingehend reformieren, das Zukunftsinvestitionen herausgerechnet werden. Die Grünen bekommen nicht die angestrebte CO2-Bepreisung samt Energie-Geld und die SPD nicht das Mietenmoratorium. "Völlig klar, dass es Zumutungen gibt", sagt Habeck und macht keinen Hehl daraus, dass diese aus seiner Sicht vor allem den Liberalen zuzuschreiben sind.

Die FDP hat viele linke Programmpunkte, wie sie es ihren Wählern versprochen hat, verhindert und mit dem Erhalt der Schuldenbremse, dem Versprechen der großen Digitalisierungsoffensive und des Bürokratieabbaus einiges bekommen, was ihr wichtig war. Die FDP hat aber auch sehr vieles schweren Herzens akzeptieren müssen: Das Sondierungspapier bekennt sich zur Solardachpflicht auf Gewerbegebäuden, zu zwei Prozent Landesfläche, die der Windkraft zur Verfügung gestellt werden, zum Ende des Verbrennermotors in 2035, zu einer Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, zur massiven öffentlichen Förderung des Wohnungsbaus, zur Rentengarantie und zur Einführung eines Bürgergelds, das das Hartz-IV-System ersetzen soll.

Nachts fielen die Würfel

Die FDP hat zur Bildung einer Ampelregierung programmatisch den weitesten Weg zu gehen, weshalb die beiden einander so nahestehenden, im Bundestag jeweils größeren Parteien SPD und Grüne erkennbar Fingerspitzengefühl demonstrieren: Nicht Klima, sondern Digitalisierung und Bürokratieabbau stehen als erster Punkt auf dem Sondierungspapier. Auch Olaf Scholz erwähnt den Aspekt "Modernisierung" als erstes in seiner kurzen Ansprache und nicht etwa sein Wahlkampf-Herzensthema Soziales.

Auch in puncto persönlicher Umgang haben die rot-grünen Sondierungsteams offenbar nach Kräften um die FDP geworben: "Allein dieser Stil markiert schon eine Zäsur in der politischen Kultur Deutschlands", schwärmt Lindner über die Sondierungsgespräche, die von Vertrauen und Vertraulichkeit geprägt gewesen seien. Und tatsächlich drang ja fast nichts nach außen.

Nicht einmal, dass die Parteispitzen "bis in die Morgenstunden" dieses Freitags zusammengesessen hatten, um das von den Generalsekretären und Geschäftsführern heruntergeschriebene Sondierungspapier festzuzurren, war bis zum Mittag bekannt geworden. "Wenn man nachts lange redet, dann lernt man sich ganz gut kennen", sagt Habeck bedeutungsschwer. Eigentlich hatten die Sondierungsteams lange Nachtsitzungen explizit nicht haben wollen, doch im Rausch des Augenblicks schien auch das nicht zu stören. Der Wille war offenbar groß, am Freitag etwas zu verkünden zu haben.

In den Finanzen birgt sich der Konflikt

Woran es denn da gehakt habe und wie die Nachtsitzung verlaufen sei, dazu grinsen die zwei Frauen und vier Männer hinter den Mikrofonen nur. Offensichtlich aber ist die Frage der Finanzierung der vielen Vorhaben der größte Widerspruch in dem vorgelegten Papier. Dass Lindner nun hervorheben kann, "dass es klare finanzielle Leitplanken gibt", klärt nicht die Frage, wie die in Aussicht gestellten öffentlichen Investitionen stattdessen finanziert werden sollen. Dass Scholz Nachfragen hierzu abbügelt, dass das schon passe, und Esken behauptet, "der konkrete Finanzbedarf war jetzt nicht Bestandteil unserer Sondierungsgespräche", lässt noch viel Konfliktpotenzial in den Koalitionsverhandlungen vermuten. Dass über die Postenvergabe noch gar nicht gesprochen worden sein soll, wie Olaf Scholz behauptet, lässt ein weiteres Konfliktthema ungeklärt.

Dazu muss es aber erst einmal zu ordentlichen Koalitionsverhandlungen kommen. Während die Zustimmung des SPD-Parteivorstands zur Aufnahme der Verhandlungen an diesem Freitagnachmittag wohl nur Formsache ist, müssen die Grünen am Sonntag das Go ihres Parteirats erhalten und die FDP am Montag ein Ja ihres Präsidiums. Die Grünen haben dabei durchaus Erfolge vorzuweisen: "Lobpreis und Ehre für meine Vorsitzenden", sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Gehen. "Sie haben gut verhandelt."

Grüne finden zwei "Glutherde"

Zwar gehört Kretschmann nicht den aktivistischen Parteilinken an, von denen es so viele in die neue Bundestagsfraktion der Grünen geschafft haben, aber dennoch: Die SPD hat sich bereit erklärt, dass die nächste Bundesregierung zumindest versuchen wird, schon 2030, also acht Jahre früher als im Kohlekompromiss vereinbart, aus der Kohleverstromung auszusteigen. Dagegen hatte sich Scholz bislang gewehrt. Auch wenn Zahlen zum Ausbau der Erneuerbaren noch fehlen, ist der Ausbau der Solardächer und die festgehaltene Windkraftoffensive sowie ein Bekenntnis zum ambitionierten EU-Klimaschutzprogramm "Fit for 55" nicht eben wenig. Habeck jedenfalls findet in dem Papier "ausreichend Maßnahmen (...), um das Paris-Ziel einzuhalten".

Hinzu kommt, dass in Fragen der Bürgerrechte die Überschneidungen zwischen allen drei Parteien beträchtlich sind und die Grünen hier viele Herzensthemen durchbringen können, insbesondere mit Blick auf die Gleichstellung von Männern und Frauen, auf die Rechte von Transsexuellen und auf die Frage des Staatsbürgerrechts. Auch beim Thema Einwanderung stehen alle drei Parteien einander näher, als es jede einzelne von ihnen zur Union steht. Dass der Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz gestrichen wird und das Wahlalter auf 16 Jahre herabgesenkt werden soll, fällt ebenso in diese Kategorie. Habeck spricht von einem "zweiten Glutkern dieses sich abzeichnenden Bündnisses und das ist die gesellschaftliche Modernisierung", eine Politik "die den Lebenswirklichkeiten in diesem Land endlich Rechnung trägt".

Dafür aber stellen sich den Koalitionären in spe noch ganz andere Rechnungen, die es zuvorderst zu lösen gilt. Zu Fragen der Finanzierung und Verschuldung sowie der Ressortaufteilung gesellen sich Themen, die in dem Sondierungspapier gar nicht Thema sind, etwa innere Sicherheit und Verteidigung. Auch die Ausführungen zur Wirtschaft sind noch vergleichsweise dünn, die Ankündigungen dafür aber vollmundig: "Es wird das größte industrielle Modernisierungsprojekt, das Deutschland wahrscheinlich seit über hundert Jahren durchgeführt hat", sagt Scholz. An Motivation, so viel ist deutlich geworden, mangelt es den Spitzenvertretern der drei Parteien nicht. Da darf man schon mal grinsen.

Quelle: ntv.de

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