Afghanistan unsicherer als Irak Stabschef fordert mehr Truppen
26.03.2008, 17:17 UhrDer deutsche Stabschef der Afghanistan-Schutztruppe ISAF, Hans-Lothar Domröse, hat dem Bundestag einem Zeitungsbericht zufolge nahegelegt, die Zahl der Soldaten am Hindukusch zu erhöhen. "Wenn man immer am Limit fährt, kann man nicht mehr beschleunigen", sagte der ranghöchste Bundeswehroffizier in Afghanistan der Wochenzeitung "Rheinischer Merkur". Kanadas Verteidigungsminister Peter MacKay sagte "Spiegel" auf die Frage, ob er deutsche Soldaten im Süden haben wolle: "Aber natürlich. Wir wünschen uns auch mehr französische, spanische, italienische Truppen im Süden."
Der Bundestag entscheidet im Herbst über die Verlängerung des Mandats. Die darin festgelegte Obergrenze von 3500 Mann für den Einsatz im vergleichsweise ruhigen Norden des Landes wird voll ausgeschöpft. Beim NATO-Gipfel vom 2. bis 4. April in Bukarest werden die Verbündeten über die weitere Strategie in Afghanistan beraten. Vor allem die USA, Kanada und Großbritannien fordern Unterstützung für die Bekämpfung von Taliban-Kämpfern im Süden.
Kanada droht mit Abzug
Die Deutschen seien zu einem größeren Einsatz in der Lage, meinte MacKay. Er verstehe, dass Truppenentsendungen in Deutschland innenpolitisch schwer durchzusetzen seien, aber die Bundesrepublik müsse sich wie andere Länder ihren internationalen Verpflichtungen stellen. Kanada droht mit dem Abzug seiner Truppe aus dem umkämpften Süden, wenn andere NATO-Staaten keine zusätzlichen Soldaten schicken.
Der frühere Verteidigungsstaatssekretär, der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer, kritisierte im "Tagesspiegel", die NATO habe sich "von einem Verteidigungsbündnis zu einem globalen Einsatzkommando" entwickelt. Die Allianz müsse sich wieder stärker an ihren ursprünglichen Verteidigungscharakter erinnern.
Unsicherer als der Irak
Einem Expertenbericht zufolge ist die Lage in Afghanistan trotz der Präsenz zehntausender ausländischer Soldaten mittlerweile schlechter ist als im Irak. Noch unsicherer seien nur die Palästinensergebiete und Somalia, heißt es in einer Rangliste, die die auf Sicherheitspolitik spezialisierte britische Jane's Information Group am Dienstag veröffentlichte. So habe die Regierung in Kabul weniger Kontrolle über ihr Staatsgebiet als die irakischen Behörden.
Als Unsicherheitsfaktoren in Afghanistan nannte der für die Jane's-Rangliste zuständige Geschäftsführer Christian Le Miere auch den Drogenhandel, der einigen Schätzungen zufolge rund 50 Prozent der Wirtschaftskraft ausmache, und die Rohstoffarmut des Landes. Im Irak wirkten dagegen die weltweit proportional höchste Zahl ausländischer Soldaten, hohe Öleinnahmen und ein deutlicher Rückgang der Gewalt stabilisierend. Mit Hilfe der internationalen Truppen könne die Regierung dort ihren Willen im gesamten Staatsgebiet durchsetzen.
Tote bei Anschlägen in Südafghanistan
Unterdessen sind bei einem Bombenanschlag in der südafghanischen Unruheprovinz Helmand acht Zivilisten ums Leben gekommen. Der Polizeichef der Provinz, Mohammad Hussain Andewal, sagte, bei der Explosion des in einem Auto versteckten Sprengsatzes auf einem Wochenmarkt im Distrikt Gerischk seien 17 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Ein Sprecher der radikalislamischen Taliban sagte, Aufständische hätten die Bombe platziert und ferngezündet. Ziel des Anschlags seien Militärangehörige gewesen. Nach Polizeiinformationen waren alle Opfer Zivilisten.
Ebenfalls in Helmand starb ein Polizist bei einem weiteren Bombenanschlag. Polizeichchef Andewal sagte, das Fahrzeug des Opfers sei von einem am Straßenrand deponierten Sprengsatz zerstört worden. Die Provinz Helmand an der Grenze zu Pakistan gilt als Hochburg der Taliban.
Die Taliban kündigten den Beginn einer landesweiten Frühjahrsoffensive gegen afghanische und internationale Sicherheitskräfte unter der Bezeichnung "Ebrat" (Lehre) an. "Ziel dieser Operation ist es, den Invasoren eine Lehre zu erteilen, indem wir ihnen harte Schläge verpassen und sie zwingen, die Besatzung Afghanistans zu beenden", sagte der stellvertretende Taliban-Anführer Mullah Bradar Akhund in einer im Internet verbreiteten Erklärung. Er kündigte dazu "neue Wege" unter Nutzung der Taktik und Erfahrungen der vergangenen Jahre an. Seit Beginn vergangenen Jahres sind in Afghanistan bei Kämpfen und Anschlägen mehr als 8000 Menschen ums Leben gekommen.
Hilfszusagen nicht eingelöst
Hilfsorganisationen warfen der internationalen Gemeinschaft unterdessen vor, sie habe 40 Prozent ihrer Hilfszusagen für Afghanistan bis heute nicht eingelöst. Nach Angaben des Dachverbands für die Afghanistan-Hilfe, Acbar, wenden allein die USA rund 100 Millionen Dollar täglich für den militärischen Kampf gegen die Taliban auf, während sich die Summe sämtlicher Hilfszahlungen seit 2001 nur auf sieben Millionen Dollar pro Tag summieren. Von 25 Milliarden Dollar, die die internationale Gemeinschaft dem Land für Wiederaufbau und Entwicklung zugesagt habe, seien erst 15 Milliarden Dollar ausgegeben worden. 40 Prozent davon seien als Firmengewinne und Gehälter in die Geberländer zurückgeflossen. Zudem würden zwei Drittel der Hilfsgelder an der Regierung in Kabul vorbeigeleitet.
Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul wies die Vorwürfe von Acbar zurück. "Alle Zusagen werden von uns sorgfältig erfüllt", sagte sie. Von den 900 Millionen Euro, die die Bundesregierung bis 2010 in Aussicht gestellt habe, seien bis Ende 2007 bereits 76 Prozent völkerrechtlich verbindlich zugesagt worden. Tatsächlich ausgezahlt worden seien in der Vergangenheit mehr als 90 Prozent der Zusagen. Allein dieses Jahr stelle Deutschland 140 Millionen Euro für den zivilen Wiederaufbau zur Verfügung.
Quelle: ntv.de