Noch mehr Zank nach Volksentscheid? Stuttgart 21 ohne Schlussstrich
24.11.2011, 11:06 Uhr
Knapp 17 Jahre nach den ersten Planungen entscheidet Baden-Württemberg über Stuttgart 21.
(Foto: dapd)
Am Sonntag soll in Baden-Württemberg eine Volksabstimmung endgültig darüber entscheiden, ob der Tiefbahnhof gebaut wird oder nicht. Bundesweit etwas aus dem Fokus gerückt, hat man im Ländle selbst das Thema teilweise schon satt. Doch in Stuttgart ist die Kampfeslust ungebrochen. Es bleibt die Sorge, ob sich wirklich der Wille der Mehrheit durchsetzt.
Stuttgart 21 - im nachrichtenprallen Jahr 2011 scheint der Streit um den Tiefbahnhof einigen so lange her zu sein wie ein Jahresrückblick vom Vorjahr. Die Bilder sind noch präsent, der Ausgang unklar. Doch in Baden-Württemberg ist das Thema topaktuell und die Stimmung mehr als gereizt. Am Sonntag soll nun das Volk entscheiden. Danach soll endlich Schluss sein mit dem Bahnhofsgezänk, so der fromme Wunsch im Ländle.
Zur Erinnerung: Gebaut werden soll ein unterirdischer Durchgangsbahnhof, eine 60 Kilometer lange Bahnstrecke von Stuttgart nach Ulm sowie ein Wohn- und Geschäftsviertel auf dem hundert Hektar umfassenden Gleisareal neben dem Stuttgarter Schlossgarten. Geschätzte Kosten für den unterirdischen Fernbahnhof: 4,5 Milliarden Euro. Der Streit um das Projekt hat eine neue Form des Bürgerprotestes hervorgebracht und mit "Wutbürger" das Wort des Jahres 2010 geprägt.
Der Abriss des Nordflügels im August 2010 und schließlich der massive Polizeieinsatz im September 2010 sorgten nicht nur bundesweit, sondern auch international für Aufsehen und Kritik. Die schwarz-gelbe Landesregierung musste ihren Platz räumen und seit März 2011 ist Baden-Württemberg das erste Bundesland mit einem grünen Ministerpräsidenten. Diese geschichtsträchtigen Umwälzungen riefen die Historiker des "Hauses für Geschichte Baden-Württemberg" auf den Plan. Sie sicherten sich den 80 Meter langen und 3,20 Meter hohen Bauzaun, der bis vergangenen Dezember am Nordflügel stand, und wollen ihn ab Mitte Dezember ausstellen.
Zu früh für die Ablage
Doch es ist noch etwas zu früh für Stuttgart 21, um im Museum zu landen. Denn zum einen wurde noch gar nicht über das Bahnhofsprojekt entschieden, zum anderen rissen die im Oktober 2009 gestarteten Montagsdemos in Stuttgart nie ab. In den letzten Wochen kamen zwar wöchentlich nicht mehr 15.000 Demonstranten wie zu Hochzeiten des Protestes zusammen. Mit durchschnittlich 3000 bis 4000 Teilnehmern Woche für Woche lagen die Zahlen aber noch deutlich über der Nichtigkeitsschwelle. Eine Woche vor der Volksabstimmung beteiligten sich nach Angaben der Veranstalter 11.000 bis 12.000 Kritiker an der 100. Montagsdemo.
Das Bündnis gegen Stuttgart 21 wertete die Teilnehmerzahl als klares Zeichen für den Erfolg der Kampagne "'Ja' zum Ausstieg", obwohl in den Umfragen die Unterstützer des Tiefbahnhofs mit 50 zu 30 Prozent vorne liegen. Hoffnung machen sich beide Seiten nun auf die 20 Prozent der Befragten, die noch keine Meinung zu Stuttgart 21 haben.
Schwieriger Hürdenlauf
Es bleibt also spannend, nicht zuletzt auch, weil es bei der Volksabstimmung noch einige Hürden zu nehmen gilt. Das geht schon mit der Fragestellung für die Volksabstimmung los. Die Bürger stimmen nämlich nicht über das Projekt an sich ab, sondern über den vom Landtag abgelehnten Gesetzesentwurf zum Ausstieg. Dementsprechend birgt die Frage "Stimmen Sie der Gesetzesvorlage 'Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21' zu?" einiges Verwirrungspotenzial.
So sprechen sich die Bürger mit einem "Ja" gegen das Milliardenprojekt aus, bei "Nein" stimmen sie für die Mitfinanzierung des Tiefbahnhofs. Einer Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung zufolge sind viele mit dieser Fragestellung überfordert. Demnach würden 18 Prozent mit "Ja" und damit für den Ausstieg aus der Finanzierung stimmen, obwohl sie für das Projekt seien. Beide Seiten rühren daher seit Tagen kräftig die Werbetrommel für das Kreuzchen an der aus ihrer Sicht richtigen Stelle.
Das Quorum
Die größte Hürde für die S21-Gegner ist jedoch das Quorum. Denn es muss nicht nur die Mehrheit der Abstimmenden für den Ausstieg votieren, diese Mehrheit muss laut Landesverfassung mindestens ein Drittel der 7,6 Millionen Wahlberechtigten ausmachen. Das sind 2,5 Millionen Stimmen. Zum Vergleich: Bei der Landtagswahl bekamen die Grünen rund 1,2 Millionen Stimmen.
Ein Quorum soll sicherstellen, dass eine kleine Minderheit von Stimmen nicht in Abwesenheit der Mehrheit Beschlüsse fassen kann. Doch Kritiker weisen auch im Fall Stuttgart 21 daraufhin, dass Quoren das Abstimmungsergebnis verzerren und sogar ins Gegenteil umkehren können, indem logisch betrachtet Enthaltungen als Gegenstimmen gewertet werden. Auch ist die Höhe der Zustimmungsquote in Baden-Württemberg mit 33 Prozent im bundesweiten Vergleich relativ hoch. So liegt die Quote in Berlin bei 25 und in Nordrhein-Westfalen bei 15 Prozent. Bayern, Hessen oder Sachsen haben kein Zustimmungsquorum.
Wenn also am Sonntag die Mehrheit der Abstimmenden gegen Stuttgart 21 stimmt, aber das Quorum nicht erfüllt ist, wäre dies ein politisch äußerst brisantes Ergebnis. Denn nach Ansicht des Bündnisses gegen Stuttgart 21 ist vor allem die Mehrheit der Abstimmenden wichtig, nicht das Erreichen der Hürde für das Referendum. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat dagegen bereits wiederholt auf die gültige Verfassung verwiesen: "Daran haben sich alle zu halten."
Letzter Ausweg: Kostenbremse
Sollte die Volksabstimmung Stuttgart 21 nicht aufhalten, bleibt den Projektgegnern nur die Hoffnung, dass die Bahn das Projekt selber kippt. Und als beste Chance gelten hier ausufernde Kosten. Bahnchef Rüdiger Grube hat die Sollbruchstelle immer bei Kosten über 4,5 Milliarden Euro angesiedelt und die grün-rote Koalition hat einen Kabinettsbeschluss gefasst, der vorsieht, dass sie sich an keinen Kosten beteilige, die über die vereinbarten 4,5 Milliarden Euro hinausgingen. Offiziell gibt es hier noch einen Puffer von mehreren hundert Millionen Euro. Inoffiziell könnten die Kosten allerdings bei mindestens fünf Milliarden Euro liegen. Branchenexperten vermuten jedoch, dass selbst höhere Kosten das Projekt nicht sprengen können. Dann werde man sich einfach überlegen, in welcher Art und Weise die höheren Kosten aufgefangen werden, wie bei jedem Großprojekt, heißt es.
Entsprechend selbstbewusst gibt sich Bahnchef Grube im Vorfeld der Entscheidung und kündigt an, dass die Bahn im Falle eines Neins der Bürger und einem folgenden Ausstieg des Bundeslandes aus dem Projekt, Schadenersatz einklagen werde. Allein die Bahn würde 1,5 Milliarden Euro Schaden geltend machen, hinzu kämen voraussichtlich Forderungen von der Stadt und dem Flughafen Stuttgart. Entsprechend käme Baden-Württemberg deutlich günstiger weg, wenn das Projekt fortgeführt würde und das Land seine Beteiligung von allerhöchstens 930 Millionen Euro leisten werde, so Grube.
Grubes Rechenweg können aber nicht alle folgen. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Märkische Revision schätzt die Kosten für einen Aussstieg des Landes Baden-Württemberg auf 350 Millionen Euro – das wäre deutlich günstiger als die 1,5 Milliarden Euro Schadenersatz. Auch über die Ansicht der Deutschen Bahn, dass es ohne das Bahnhofsprojekt keine ICE-Neubautrasse zwischen Wendlingen und Ulm geben wird, gibt es geteilte Meinungen. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) erklärte etwa, dass nicht die Bahn entscheide, welche Strecken gebaut würden, sondern der Bundestag. Sollte die Bahn nicht als Bauherr zur Verfügung stehen, finde sich sicher ein anderes Unternehmen, so Hermann. Finanziert werde die Strecke in jedem Fall ausschließlich von Bund und Land.
Schaut man sich diesen Korb voller Zankäpfel an, wird sich der Wunsch vieler Schwaben nach einem Ende des Bahngezänks am Wochenende wohl nicht erfüllen. Eher noch wird das "Haus für Geschichte Baden-Württemberg" in den nächsten Monaten Gelegenheit haben, weitere Artefakte über einen ungewöhnlichen Streit zu sammeln.
Quelle: ntv.de