Politik

Deserteure fliehen in die Türkei Syrische Armee "säubert" Städte

Anlass oder Vorwand für die Offensive? Syrische Soldaten mit Leichen der 120 Sicherheitskräfte, die angeblich von Aufständischen getötet worden sein sollen. Andere Quellen meinen, sie seien als Deserteure von der Armee erschossen worden.

Anlass oder Vorwand für die Offensive? Syrische Soldaten mit Leichen der 120 Sicherheitskräfte, die angeblich von Aufständischen getötet worden sein sollen. Andere Quellen meinen, sie seien als Deserteure von der Armee erschossen worden.

(Foto: AP)

Syriens Armee setzt ihre Offensive im Norden des Landes mit unverminderter Härte fort. Dschisr al-Schogur mit seinen normalerweise 45.000 Einwohnern sei von "bewaffneten terroristischen Elementen gesäubert". Augenzeugen berichten von einer Geisterstadt. Immer mehr Syrer fliehen in die Türkei, auch desertierte Soldaten suchen dort Schutz.

Die syrische Armee ist bei der Verfolgung von Regimegegnern in eine weitere Ortschaft der Provinz Idlib vorgerückt. Oppositionelle berichteten auf ihren Webseiten, Soldaten mit Panzern und Angehörige der regimetreuen Schabiha-Miliz seien ins Zentrum von Chan al-Scheichun eingedrungen. Die Türkei, die inzwischen 9000 Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, forderte die Führung um den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad erneut dazu auf, das unmenschliche Vorgehen der Truppen zu beenden.

Am Freitag werden in Syrien neue Kundgebungen im Anschluss an das traditionelle Freitagsgebet erwartet. Vertreter der Opposition bereiten sich dabei auf ein erneut gewaltsames Vorgehen der Sicherheitskräfte vor. Ein Aktivist berichtete, allein in der vergangenen Woche seien zwischen 6000 und 7000 Menschen "wahllos" festgenommen worden.

Soldaten fliehen

Panzer in Deir al-Sor.

Panzer in Deir al-Sor.

(Foto: AP)

Aktivisten hatten im Internet Videoaufnahmen veröffentlicht, die aus Maarat al-Noaman stammen sollen. Sie zeigen Militärhubschrauber und schwarze Rauchwolken über dem Stadtzentrum. Ähnlich war die Armee bereits am letzten Wochenende in Dschisr al-Schogur vorgegangen. Hunderte Menschen seien dort verhaftet worden, gaben Oppositionelle an. In der gesamten Provinz Idlib würden Streitkräfte, Regime-Milizen und Geheimdienst Jagd auf Oppositionelle und Soldaten machen, die sich aus Protest gegen die brutalen Einsätze von der Truppe losgesagt hatten.

Einige der Deserteure schlagen sich nun auch in die Türkei durch. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, ein syrischer Oberstleutnant und vier Soldaten hätten sich am Mittwoch über die Grenze abgesetzt. Nach Informationen von der türkisch-syrischen Grenze stammt der geflohene Offizier aus der Provinz Idlib. Einige Soldaten sollen in den vergangenen Tagen ihre Verwandten in den Dörfern der Provinz Idlib vor bevorstehenden Angriffen gewarnt haben, was diese zur Flucht in Richtung Türkei veranlasste.

Dschisr-al-Schogur eine Geisterstadt

Ein Helfer an der Grenze zur Türkei sagte, auf der syrischen Seite der Grenze kampierten derzeit rund 3000 Männer, Frauen und Kinder unter freiem Himmel. Die meisten von ihnen stammten aus der Kleinstadt Dschisr al-Schogur. Aus der zuletzt vom Militär besetzten Stadt Maarat al-Noaman seien bislang keine Vertriebenen zur Grenze gekommen, weil die Sicherheitskräfte den Weg nach Westen blockierten.

Tausende warten noch im Grenzgebiet, um Syrien verlassen zu können.

Tausende warten noch im Grenzgebiet, um Syrien verlassen zu können.

(Foto: REUTERS)

Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana meldete derweil, 5000 Bewohner von Dschisr al-Schogur seien seit Mittwoch in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Armee hätte die 45.000-Einwohner-Stadt zuvor von "bewaffneten terroristischen Elementen gesäubert". Nach einem Augenzeugenbericht gleicht der Ort einer Geisterstadt. Ein Korrespondent der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, der von Damaskus aus in die Provinz Idlib reisen durfte, berichtete, über der Kleinstadt hänge ein Geruch von Rauch und Blut.

Ausgangspunkt der Offensive im Norden waren Zusammenstöße in Dschisr al-Schogur. Die Armee rückte in den Ort ein, weil nach Darstellung der syrischen Führung "bewaffnete Banden" Anfang Juni 120 Sicherheitskräfte getötet haben sollen. Augenzeugen sagten dagegen, Sicherheitskräfte hätten die Seite gewechselt und zusammen mit Bewohnern eine Polizeikaserne gestürmt, nachdem die Polizei 48 Zivilisten getötet habe. Etwa 40 Polizisten und 20 Deserteure seien getötet worden.

Protest gegen Assad: Kinder in einem Flüchtlingslager in der Türkei.

Protest gegen Assad: Kinder in einem Flüchtlingslager in der Türkei.

(Foto: AP)

Eine unabhängige Überprüfung der Angaben ist schwierig, da Syrien die Berichterstattung ausländischer Korrespondenten nahezu völlig unterbunden hat.

Türkei will vorbeugen

In Syrien fordern seit drei Monaten Zehntausende Menschen demokratische Reformen und den Rücktritt Assads, dessen Familie das Land seit vier Jahrzehnten autokratisch regiert. Nach Angaben von syrischen Menschenrechtsgruppen wurden bislang 1300 Zivilisten und mehr als 300 Soldaten und Polizisten getötet.

Die Türkei will den Druck für eine friedliche Lösung des Konflikts in Syrien verstärken, auch um möglichen Forderungen nach einer Intervention in Syrien vorzubeugen. "Darum wollen wir die syrische Seite überzeugen, eine rationale Entscheidung zu treffen", sagte Nabi Avci, außenpolitischer Berater von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, in Istanbul.

EU plant neue Sanktionen

Für Ankara sei ein Militäreinsatz in dem Nachbarland "kein Thema", führte er weiter aus. Erdogan habe das Assad-Regime mehrfach aufgefordert, Gräueltaten und das unmenschliche Vorgehen der Truppen zu beenden. Auch unterbreite die türkische Seite in den vertraulichen Gesprächen praktische Vorschläge zu den nötigen Reformen. "Die Reaktion des syrischen Regimes bisher war leider enttäuschend und wenig hilfreich", bedauerte Avci.

Die Europäische Union arbeitet derweil nach Angaben aus Diplomatenkreisen an neuen Sanktionen gegen Syrien. Eine Expertengruppe habe mit Beratungen über eine "Ausweitung der Sanktionen gegen Syrien" begonnen, sagte ein EU-Diplomat in Brüssel. Die Experten debattierten demnach über eine Reihe von "Namen und Firmen". So habe die EU rund ein Dutzend Wirtschaftsvertreter im Visier, die einer bereits bestehenden Sanktionsliste hinzugefügt werden könnten. Über Firmen, die mit der Regierung von Präsident Baschar el Assad in Verbindung stünden, werde ebenfalls diskutiert. In New York debattiert derzeit zudem der UN-Sicherheitsrat über eine Resolution zu Syrien, in der das Vorgehen der Führung gegen Demonstranten verurteilt werden soll.

Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts

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