US-Wahl

Dissident will ausreisen Chen wird zu Obamas Problem

Ein Journalist filmt ein Foto von Chen Guangcheng in Hongkong.

Ein Journalist filmt ein Foto von Chen Guangcheng in Hongkong.

(Foto: AP)

Von den USA fühlt er sich getäuscht und von China wird er unter Druck gesetzt: Das Schicksal des blinden Bürgerrechtlers Chen belastet das amerikanisch-chinesische Verhältnis, über dessen Verbesserung die beiden größten Volkswirtschaften der Welt derzeit verhandeln. US-Präsident Obama kommt das äußerst ungelegen.

So war das wirklich nicht geplant: Der chinesische Bürgerrechtler Chen Guangcheng fühlt sich von US-Diplomaten hinters Licht geführt, erhebt schwere Vorwürfe sowohl gegen die USA als auch gegen China und will nun doch mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten ausreisen. Damit stehen Washington und in Peking vor einem großen Problem – obwohl die delikate Angelegenheit bereits gelöst schien.

Aber der Fall Chen überschattet nun doch die bilateralen Regierungsgespräche über strategische, politische und wirtschaftliche Fragen, die in Peking stattfinden. Das wollten die USA unbedingt vermeiden und waren deshalb an einer schnellen Lösung interessiert. Zu der kam es allerdings nicht.

Das ist auch aus amerikanischer Sicht ärgerlich, denn von den Gesprächen mit den Chinesen erhofften sie sich Fortschritte – sowohl außenpolitisch als auch wirtschaftlich. In den Konflikten mit Iran, Nordkorea und Syrien suchen sie Unterstützung Pekings. Außerdem stehen im November Präsidentschaftswahlen an. Barack Obamas Aussichten stehen und fallen mit der US-Konjunktur, deren Erholung sich gerade spürbar verlangsamt. Die Entwicklung der US-Wirtschaft hängt in großem Ausmaß von Chinas Wirtschaftspolitik ab. Grund genug für  Finanzminister Timothy Geithner, auf einen stärkeren Yuan zu drängen.

Die Gespräche sind traditionell schon schwierig genug – auch ohne eine diplomatische Krise. Vor diesem Hintergrund kam die Flucht Chens in die US-Botschaft zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Peking und Washington waren daran interessiert, die Angelegenheit möglichst schnell und geräuschlos zu klären – zu für alle Beteiligten akzeptablen Bedingungen.

Die Lösung schien gefunden. Die chinesische Seite sicherte zu, dass Chen nicht weiter behelligt werde und an einer Universität studieren dürfe. Der seit seiner Kindheit blinde Dissident hatte sich als autodidaktischer Anwalt mit seinem Einsatz gegen Zwangssterilisierungen einen Namen gemacht und war 2006 zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt und anschließend unter Hausarrest gestellt worden.

Chen bekommt Angst

US-Außenministerin Hillary Clinton versprach, darauf zu achten, dass die Behörden ihre Ankündigungen auch einhalten und das Schicksal des Bürgerrechtlers "in den nächsten Tagen, Monaten und Jahren" verfolgen zu wollen. Chen verließ daraufhin die US-Botschaft und begab sich in ein Krankenhaus – er hatte sich bei seiner Flucht aus dem Hausarrest am Fuß verletzt.

Doch im Krankenhaus überlegte es sich der 40-Jährige anders: Er will nun doch mit seiner Familie in die USA, da er sich in China nicht sicherfühlt. Eigentlich habe er in der Volksrepublik bleiben wollen, um seine Menschenrechtsaktivitäten fortsetzen zu können, sagte Chen. Doch nachdem er die US-Botschaft verlassen und mit seiner Familie gesprochen habe, habe er seine Meinung geändert.

Chen kritisierte, er sei sich nicht im Klaren über die Lage gewesen. US-Diplomaten hätten ihn gedrängt, die Botschaft zu verlassen und Telefonate mit seiner Familie verhindert. Nun habe ihm seine Frau gesagt, dass in ihrem Haus in der östlichen Provinz Shandong die Sicherheitskräfte auf ihn warteten. Das gesamte Haus sei mit Kameras versehen worden. Die Behörden drohten demnach, dass er das Haus nie wieder verlassen werde. Seine Frau habe ihm zudem gesagt, dass sie stundenlang verhört worden sei – dabei habe die Polizei sie zwei Tage lang an einen Stuhl gefesselt. Schlimmer noch: Hohe Wellen schlug ein Bericht, nach dem Chen gesagt habe, dass ihm damit gedroht worden sei, seine Frau zu Tode zu prügeln, sollte er die Botschaft nicht verlassen. Inwieweit diese Berichte zutreffen, ist wegen unterschiedlicher Darstellungen aber unklar.

Konjunktur entscheidet Wahlen

Fest steht allerdings, dass das Schicksal Chens die Beziehungen zwischen China und den USA belastet. Der Bürgerrechtler ist nun nicht mehr nur ein Problem von Peking, sondern bringt auch die US-Regierung in Schwierigkeiten. Denn der Vorwurf, Chen im Stich gelassen zu haben, wiegt schwer.

Außerdem gestalten sich die Gespräche von Clinton und Geithner in Peking jetzt schwieriger. Zudem will Obamas Herausforderer Mitt Romney das Schicksal Chens nutzen, um im Wahlkampf zu punkten. Sein Lager wirft der US-Regierung vor, vor China eingeknickt zu sein und zeichnet das Bild eines schwachen, zögerlichen Präsidenten, der US-Interessen nicht durchsetzen könne. Inwieweit Romney tatsächlich politisches Kapital aus der Sache schlagen wird, hängt aber davon ab, wie sich der Fall weiterentwickeln wird – zumal Außenpolitik in den USA in der Regel nicht wahlentscheidend ist.

Doch wenn der Umgang Chinas mit Chen zu einer Krise zwischen Washington und Peking führt, kann der Bürgerrechtler plötzlich doch eine ungeahnte Wirkung entfalten. Ein Konflikt zwischen der größten und die zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt würde die konjunkturelle Erholung der USA aller Voraussicht nach weiter bremsen – und damit Romney in die Karten spielen. Oder wie es ein Blogger in Peking ausdrückt: "Es wäre schon eine Ironie der Geschichte, wenn Chen nicht die chinesische, sondern die amerikanische Zukunft verändern würde."

Quelle: ntv.de

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