Turbulenzen in Tunis Übergangsregierung bröckelt
18.01.2011, 21:25 Uhr
Zumindest scharf geschossen wird nicht mehr in Tunis.
(Foto: REUTERS)
Kaum ernannt, schon im Clinch: Kurz nach ihrer Ernennung treten vier designierte Minister ihren Rückzug an. Sie wollen angesichts der heftigen Proteste der Bevölkerung nicht in einem Kabinett sitzen, in dem noch sechs Minister der alten Garde ihre Posten haben.
Bereits am ersten Tag nach ihrer Ernennung haben vier designierte Minister in letzter Minute ihren Rückzug aus der tunesischen Übergangsregierung angekündigt. Nach heftigen Protesten der Bevölkerung wollten sie nicht mehr zu einem Kabinett gehören, in dem sechs Mitglieder der alten Garde ihren Posten behalten haben. Zeitweise sah es nach Berichten von Diplomaten so aus, als ob die Regierung ganz auseinanderbrechen würde. Viele Tunesier fordern die Auflösung der Ex-Regierungspartei RCD. Die Polizei setzte erneut Tränengas ein, um Demonstranten zu zerstreuen. Zum ersten Mal seit Tagen gab es in Tunis keine Schießereien mehr.
Austritte aus Ex-Regierungspartei

Mohammed Ghannouchi ist seit 1999 Premierminister. Jetzt trat er aus der ehemaligen Regierungspartei aus.
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Als Reaktion auf die Proteste trat Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi aus der früheren de-facto-Einheitspartei RCD aus. Die Partei trennte sich ihrerseits von zahlreichen prominenten Mitgliedern, die dem verhassten Trabelsi-Clan der früheren Präsidentengattin Leila Trabelsi angehören. Die Regierung kündigte außerdem an, die Verantwortlichen für den Gewaltexzess bei den Demonstrationen zur Rechenschaft zu ziehen. Nach offiziellen Angaben kamen dabei 78 Menschen ums Leben. Ghannouchi verteidigte den Verbleib der alten Garde: "Sie haben saubere Hände", sagte er dem Sender Europe 1. Sie hätten ihre Posten behalten, weil das Land sie jetzt brauche.
Viele Tunesier sehen das anders. "Es reicht nicht, dass Ben Ali verschwindet. Der ganze Apparat muss weg", sagte eine 45 Jahre alte Gymnasiallehrerin bei der Demonstration in Tunis. "Wir wollen keine neuen Versprechen mehr, man hat uns jahrelang nur leere Versprechen gemacht". Sie klagte, dass die Schulen und Universitäten noch immer geschlossen seien. "Wir wollen auch einen Teil des Reichtums", rief ein junger Mann. "Wer in der Partei ist, ist reich, alle anderen sind arm", sagte er. "Wir haben kein Vertrauen in die neue Regierung."
Prozess gegen Ben Ali gefordert
Der Oppositionelle Moncef Marzouki, der als erster seine Kandidatur für das Präsidentschaftsamt angekündigt hatte, kehrte unterdessen aus dem französischen Exil nach Tunesien zurück. Der 65-Jährige forderte einen Prozess gegen den früheren Machthaber Zine el Abidine Ben Ali und dessen Auslieferung durch Saudi-Arabien. Dort hält der 74-Jährige sich derzeit mit seiner engsten Familie in einem Palast der Herrscherfamilie auf. Marzoukis Partei CPR (Republikanischer Kongress) war unter Ben Ali verboten und ist bislang nicht an der Übergangsregierung beteiligt.
Zu den Verweigerern in der designierten Regierungsmannschaft von Premierminister Mohammed Ghannouchi gehören drei Mitglieder der Gewerkschaft UGTT sowie Mustapha Ben Jaafar von der FDTL-Partei.
Frankreich: Frust unterschätzt

"Nein zu einer Regierung, die aus der Korruption geboren wurde" steht auf dem Plakat dieser Demonstrantin.
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In Frankreich gab ein Regierungsmitglied erstmals zu, den Frust der Bevölkerung in Tunesien unterschätzt zu haben. Die einstige Kolonialmacht Frankreich habe "wie viele andere" den Grad der Verzweiflung in der Bevölkerung gegen einen Polizeistaat nicht erfasst, sagte Verteidigungsminister Alain Juppé dem TV-Sender RTL.
Der Bundesnachrichtendienst (BND) sieht ähnliches Konfliktpotenzial wie in Tunesien auch in Gesellschaften anderer arabischer Länder. Zwar wolle er keine Staaten ausdrücklich nennen, sagte der Präsident des deutschen Auslandsgeheimdienstes, Ernst Uhrlau. Aber "es gibt eine Reihe von Entwicklungen der letzten Jahre, die in vielen Staaten gleich sind". Die Sicherheitslage in den klassischen tunesischen Tourismusgebieten beurteilte Uhrlau eher gelassen. Es gebe dort keine unmittelbare Bedrohung.
Quelle: ntv.de, dpa