Zwischenruf Ukraine: Heuchelei als Prinzip
25.11.2013, 17:59 Uhr
Die EU-Befürworter demonstrieren in Kiew weiter gegen das Ende der Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen.
(Foto: imago stock&people)
Nachdem die ukrainische Führung das Assoziierungsabkommen mit der EU abgesagt hat, rückt wieder das Schicksal von Julia Timoschenko in den Blickpunkt. Dabei geht es allen Seiten - in Kiew, Moskau und Brüssel - nur um Macht.
Der Tochter von Julia Timoschenko muss ein Lapsus unterlaufen sein, als sie erklärte, ihre Mutter würde bald sterben. Bekanntlich leidet die inhaftierte frühere Ministerpräsidentin der Ukraine unter einem Prolapsus nuclei pulposi, besser bekannt als Bandscheibenvorfall. Unbestritten ist ein Bandscheibenvorfall eine sehr ernste Angelegenheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher direkt zum Tode führt, tendiert nach Aussage von Medizinern aber gegen Null. Es ist zutiefst beunruhigend, wenn zu solchen Mitteln gegriffen wird, um das politisch unwürdige Verhalten des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch gegenüber Timoschenko anzuprangern. Analog gilt dies für die Haltung Janukowitschs und seiner Entourage gegenüber Timoschenko. Mit ein wenig gutem Willen hätte man sie zur Behandlung ausreisen lassen oder ausländischen Ärzten eine adäquate Behandlung in der Ukraine gestatten können.
Die EU und damit auch Deutschland geht in Sachen Timoschenko den falschen Weg, wenn sie die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens vom Umgang mit Timoschenko abhängig macht. Die in den "Kopenhagener Kriterien" für die Assoziierung gestellten Bedingungen hätten die Regierenden in Kiew zu einem umfassenden Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaat und Marktwirtschaft gezwungen. Eine Freilassung hätte dann sogar unter Hinweis auf die Zustimmung zu den Aufnahmebedingungen erzwungen werden können.
Doch das Schicksal von Frau Timoschenko ist nur der Vorwand. Russland übt Druck aus, weil es das slawische "Bruderland" nicht an den Westen verlieren will. Die EU will die Ukraine aus der russischen Umarmung befreien und so ihre Macht weiter nach Osten ausdehnen. Seit dem Zerfall der Kiewer Rus, Zelle des heutigen Belarus, Russlands und der Ukraine, Mitte des elften Jahrhunderts war das Land wiederholt Zankapfel im Streit von Partikularfürsten und ausländischen Mächten. Die zeitweilige Zugehörigkeit von Teilen der westlichen Ukraine zu Österreich-Ungarn und Polen bildet auch den historisch-kulturellen Hintergrund für die unterschiedliche Positionierung gegenüber Moskau. Sogar im Christentum bildet der Umgang des Moskauer Patriarchats mit den mehr als fünf Millionen Gläubigen der Griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine den Hauptgrund für die stockende Normalisierung der Beziehungen zwischen römischem Katholizismus und moskowitischer Orthodoxie.
Die Ultranationalisten demonstrieren mit
Ob die gern pro-europäisch apostrophierten Demonstrationen für Frau Timoschenko und gegen den eigenen sowie den russischen Staatschef zum Erfolg führen, darf bezweifelt werden. Was hieße Erfolg? Sofortige Freilassung? Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens auf dem Gipfel der Östlichen EU-Partnerschaft im litauischen Vilnius am 28. November? Das ist kaum realistisch.
Gern werden die Protestler als Demokraten dargestellt. Zu den Mitorganisatoren gehört aber die ultranationalistische Partei "Swoboda" (Freiheit) des Rechtspopulisten Oleg Tjagnibok, die mit Frankreichs "Front National" und Österreichs rechtem Rand unter einer Decke steckt. Das aber macht weder die Janukowitsch-Leute besser noch die Julia-Rufer schlechter. Sowohl den Einen wie den Anderen geht es um ihre Pfründe. Das Volk musste unter Frau Timoschenko darben. Unter Janukowitsch geht es ihm nicht viel besser.
Demokratisch und human verhielte sich die EU, wenn sie für alle Ukrainer eine grundlegende Reform des maroden Gesundheitswesens und nicht nur eine Behandlung von Frau Timoschenko fordern würde. Würde sich Putin menschlich gegenüber seinen slawischen Brüdern und Schwestern verhalten, würde er vor Wintereinbruch nicht mit der Erdgaskeule drohen. Doch Brüssel wie Moskau geht es um die Macht. Da interessieren weder die Volksgesundheit noch die Temperaturen in den ukrainischen Stuben. Und bei Lichte besehen nicht einmal der Bandscheibenvorfall von Frau Timoschenko.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Manfred Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de