Grenze bleibt dicht Warum Ägypten Gaza-Flüchtlingen den Riegel vorschiebt
19.10.2023, 18:39 Uhr Artikel anhören
Hunderte Palästinenser hoffen am ägyptischen Grenzübergang Rafah auf eine Ausreise.
(Foto: REUTERS)
Im Gazastreifen droht angesichts des Israel-Krieges eine humanitäre Katastrophe. Doch die Solidaritätsbekundungen des ägyptischen Nachbarn bleiben reine Lippenbekenntnisse. Denn das Land lässt keinen palästinensischen Flüchtling über die Grenze. Dafür hat Kairo mehrere Gründe.
"Verlasst Gaza, jetzt", fordert der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu die Palästinenser im Gazastreifen am vergangenen Samstag auf. Gleichzeitig schwört er, den verheerenden Hamas-Angriff in Israel zu rächen, bei dem mehr als 1400 Menschen getötet wurden. Doch für die Bewohner des Gazastreifens, die seit nunmehr 16 Jahren unter einer von Israel und Ägypten aufrechterhaltenen Blockade leben, ist eine Flucht ins Ausland so gut wie unmöglich. Der einzige Grenzübergang nach Ägypten ist fest verschlossen.
Selbst in Zeiten relativen Friedens hält Ägypten die Grenze streng unter Kontrolle. Palästinenser, die den Gazastreifen verlassen wollen, müssen sowohl bei den palästinensischen als auch bei den ägyptischen Behörden eine Genehmigung einholen. Die Wartezeiten sind lang, und um Zugang zu einer schnelleren Route zu erhalten, muss oft eine saftige Gebühr an private Reisebüros gezahlt werden. Jetzt, nach dem Ausbruch des Israel-Krieges, ist ein Passieren unmöglich. Trotz der drohenden humanitären Katastrophe im Gazastreifen will Ägypten keinen einzigen Flüchtling ins Land lassen. Woran liegt das?
Vorwurf: in Vertreibung kollaborieren
In der westlichen Welt zeigt man sich verwundert über diese Härte angesichts der vielen Toten durch israelische Raketen und einer möglicherweise bevorstehenden Bodenoffensive. Die viel beschworene arabische Solidarität mit den Palästinensern würde eigentlich gebieten, den Menschen Zuflucht zu gewähren. Doch Kairo hat gleich mehrere Gründe, warum es nur bei Lippenbekenntnissen für die Gaza-Bewohner bleibt. Einer davon: Ägypten will nicht in den Ruf geraten, bei der Vertreibung von Palästinenser mit Israel zu kollaborieren.
Um diese Sorge zu verstehen, muss man 75 Jahre in der Geschichte zurückgehen, in das Jahr 1948, der Gründung des Staates Israels. Die damalige Massenvertreibung der Palästinenser - ein Ereignis, das sie als Nakba (arabisch für "Katastrophe") bezeichnen - ist ein tief sitzendes und generationsübergreifendes Trauma. Fast 70 Prozent der Palästinenser mussten aus ihren Häusern fliehen und durften nie zurückkehren.
Ägypten befürchtet nun, dass sich die Geschichte wiederholt und Israel die Palästinenser, die auf die ägyptische Halbinsel Sinai fliehen, später nicht wieder nach Gaza lassen könnte. Erfahrungen aus Ländern wie Jordanien und Libanon zeigen, dass die Flüchtlinge dauerhaft bleiben könnten. In Jordanien leben nach UN-Angaben mehr als zwei Millionen Palästinenser.
"Politisch will kein arabischer Staat als einer gesehen werden, der bei der Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung hilft", sagt Timothy Kaldas vom Tahrir Institute for Middle East Policy gegenüber der "Washington Post". Und somit ist auch der Standpunkt der ägyptischen Regierung eindeutig: "Die palästinensische Sache ist die Sache aller Araber, und die Palästinenser sollten auf ihrem Land bleiben", sagte der autokratische Herrscher Abdel Fatah al-Sisi bereits vergangene Woche. Sein Argument: Würden alle Menschen den Gazastreifen verlassen, könnte Israel das Land übernehmen - und das gelte es zu verhindern.
Die Terror-Angst Ägyptens
Hinzu kommen starke Sicherheitsbedenken der Ägypter: Der Norden des Sinai ist instabil, militante Islamisten nutzen ihn als Rückzugsgebiet. Seit Jahren bekämpft die ägyptischen Staatsführungen dort agierende IS-Terroristen. Im Falle einer Grenzöffnung ließe es sich kaum verhindern, dass sich auch Hamas-Kämpfer unter die Flüchtlinge mischen, sagt Kaldas. Mit ihnen könnten Waffen aus Gaza nach Sinai und in die Hände von Terroristen gelangen.
Die Anwesenheit von Hamas-Kämpfer in Ägypten birgt ein weiteres Risiko, das die komplette Gegend destabilisieren könnte, warnt al-Sisi: das Scheitern des Friedensabkommens zwischen Ägypten und Israel von 1979. Er fürchtet, dass Sinai durch die Präsenz militanter Palästinenser zu einer Basis für Angriffe auf Israel werden würde. "Israel hätte dann das Recht, sich zu verteidigen - und würde ägyptisches Gebiet angreifen", so der ägyptische Präsident. "Der Frieden, den wir erreicht haben, würde uns aus den Händen gleiten."
Doch auch innenpolitisch wäre ein Zustrom von Hamas-Anhängern kritisch. Die Hamas gilt als Ableger der verbotenen Muslimbruderschaft, gegen die die ägyptische Staatsführung seit Jahren mit harter Hand vorgeht. Auch wenn sich die Hamas von der Muslimbruderschaft distanzierte und sich Ägypten seit einiger Zeit mit der Hamas arrangiert habe, bestehe in Ägypten "ganz klar die Befürchtung, dass extremistische Akteure nach Ägypten kommen", sagt Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik im ZDF.
Wirtschaftskrise und Schuldenprobleme
Im Dezember finden in Ägypten Präsidentschaftswahlen statt, al-Sisi will erneut kandidieren. Zwar gilt es schon jetzt als sicher, dass die Wahlbehörden des autoritär regierten Landes al-Sisi zum Sieger erklären werden - doch Unruhen will der Präsident trotzdem nicht riskieren.
Denn das Land steckt in einer Wirtschaftskrise und hat ein großes Schuldenproblem. Ägypten beherbergt bereits 9 Millionen Flüchtlinge und Migranten, unter anderem etwa 300.000 Sudanesen, die in diesem Jahr vor dem Krieg in ihrem Land geflohen sind. Wenn nun Hunderttausende Palästinenser über die Grenze kommen, wäre Ägypten auch für diese Menschen verantwortlich. Das bedeutet, die Regierung müsste Aufnahmezentren bauen, sich um Nahrung, Wasser und die medizinische Versorgung kümmern. Das alles kostet Geld, was Ägypten zurzeit nicht aufbringen kann - oder will.
"Es wird verhandelt, wenn nicht gar gepokert"
Der Westen versucht dennoch, Ägypten in der Flüchtlingsfrage umzustimmen. Die Ägypter seien "wirklich, wirklich wütend" über den Druck, der auf ihnen lastet, sagt ein hochrangiger ägyptischer Beamter der "Financial Times". Seine Lösung demnach: Die Europäische Union (EU) sollte die rund eine Million Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen, wenn ihnen "die Menschenrechte so sehr am Herzen liegen".
Nahost-Experte Roll zufolge dürfte es am Ende auch darum gehen, was Ägypten angeboten wird: "Ich denke, dass hier momentan ein Stück weit über den Preis verhandelt wird", so Roll im ZDF. "Ägypten steht wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand, steckt in einer schweren Schuldenkrise, ist auf jeden Dollar angewiesen. Insofern denke ich, dass hier gerade verhandelt, wenn nicht gar gepokert wird."
Immerhin scheint es so, dass al-Sisi den bislang geschlossenen Grenzübergang Rafah, den einzigen zwischen Gazastreifen und Ägypten, bald wenigstens für Hilfslieferungen öffnet, wenn schon nicht für Flüchtlinge. US-Präsident Joe Biden zufolge habe Ägypten zugesagt, zunächst bis zu 20 Lastwagen über den Grenzübergang Rafah in den Gazastreifen zu lassen. Al-Sisi habe ihm in einem Telefonat erklärt, es handele sich um einen Anfang, dem möglicherweise weitere Lieferungen folgen könnten, erklärte Biden. Israel habe unterdessen versprochen, humanitäre Hilfslieferungen aus Ägypten nicht zu behindern.
Quelle: ntv.de