Politik

Geistersoldaten und Hunger Warum die Taliban in Helmand gewinnen

Ein afghanischer Soldat bei einem Checkpoint in Helmand.

Ein afghanischer Soldat bei einem Checkpoint in Helmand.

(Foto: AP)

Seit Monaten erobern die Taliban in der afghanischen Provinz Helmand ein Gebiet nach dem anderen. Und das, obwohl sie in der Unterzahl sind und internationale Spezialkräfte die Regierungstruppen unterstützen.

Es sind die kleinen Nachrichten am Rande, die die Heftigkeit der Gefechte in der afghanischen Provinz Helmand verdeutlichen. Ein Bezirksleiter, der mit dem Hubschrauber aus seinem von Taliban umzingelten Büro gerettet werden muss. Ein Armeeoffizier, der seinen Leuten befiehlt, 200 Gräber zu schaufeln. Der stellvertretende Gouverneur, der auf seiner Facebook-Seite den Präsidenten des Landes um Hilfe bittet.

Seit mindestens sechs Monaten weiten die Taliban in dieser südlichen Provinz ihren Einfluss immer weiter aus. Zuletzt haben sie in dieser Woche den Bezirk Sangin weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Und das, obwohl sie in der Unterzahl sind. Obwohl jetzt internationale Spezialkräfte eingreifen. Und obwohl die afghanische Polizei und Armee immer weitere Verstärkungen schicken.

"Wenigstens zwei Bataillone aus Kabul, ein weiteres aus Kandahar und eines aus der Provinzhauptstadt" seien in den vergangenen zwei Tagen Richtung Sangin geschickt wurden, sagt am Donnerstag ein Armee-Kommandeur, der ungenannt bleiben will. Zur Orientierung: Ein Bataillon besteht aus 300 bis 800 Mann. Laut einem Mitglied des Provinzrats sind damit nun 18.000 Mann in Helmand stationiert. Anderen Quellen sagen sogar, es seien 30.000.

Das ergibt in jedem Fall eine massive Übermacht für den Staat - denn die Taliban selber haben nicht annähernd so viele Kämpfer. Es seien "1500 bis 2000 Kommandos in Sangin" und "5000 in ganz Helmand", sagt ein Taliban-Kommandeur der am Donnerstag. Und davon sollte man auch noch mal einiges abziehen, weil die Taliban gerne übertreiben.

Korruption und Unfähigkeit

Das wirft die Frage auf, wie die Aufständischen es schaffen, Zehntausende von Regierungstruppen in Schach zu halten. Es sei eine Mischung aus Unfähigkeit, Erschöpfung und Korruption, sagen Analysten. Ein Problem sind die sogenannten Geistersoldaten. Der deutsche Direktor des in Kabul ansässigen Recherche-Instituts Afghanistan Analysts Network, Thomas Ruttig, sagt, es gebe Hinweise, dass viele der Soldaten und Polizisten, die auf Gehaltslisten stünden, gar nicht existierten. Sie seien tot, desertiert oder erfunden. Ihren Sold strichen die Vorgesetzten ein, die nun natürlich nicht zugeben könnten, dass sie zu wenige Kämpfer haben.

In dieses Problem ist die afghanische Regierung allerdings sehenden Auges hineingeraten. Zum Thema Gehaltslisten hatte die Afghanistan-Aufsichtsbehörde des amerikanischen Senats, Sigar, schon im April einen Bericht veröffentlicht. "Nach 13 Jahren Unterstützung für die afghanischen Streitkräfte und Milliarden-Investitionen sind Personaldaten immer noch nicht akkurat", hieß es da.

Auch der afghanische TV-Sender Tolo hatte unter Berufung auf lokale Quellen im November berichtet, dass von "18.000 in Helmand registrierten Soldaten" nur "11.218 wirklich zugegen" seien. Bei der Polizei stünden 8000 Mann auf Gehaltslisten, aber nur 4890 seien aktiv. Die lokale Polizei - Milizen, die als letzte Verteidigungslinie gegen die Taliban in Dörfern stationiert sind - habe offiziell 2420 Mann. Aber auch hier seien nur 1200 im Dienst.

Der Leiter des Provinzrats, Mohammad Karim Attal, weist aber auch noch auf eine andere Art der Korruption als Ursache für das Versagen der Streitkräfte in Helmand hin. "Sie bekommen nicht annähernd die Versorgung, die sie brauchen", sagt er. "Die Kommandeure verkaufen Nahrungsmittel für die Truppen hier auf dem Basar." Dazu kommt die psychologische Kriegsführung der Taliban. In den vergangenen Tagen hatten sie wiederholt Ultimaten gestellt. "Gebt auf - oder wir kommen und töten Euch alle!", hatten sie Polizisten und Soldaten in den Bezirken Sangin und Gereschk zugerufen.

"Die Männer haben schlicht Angst"

Ein internationaler Militär erklärt, wieso das funktioniert: "Da stehen schlecht ausgebildete Soldaten, die wissen, dass ihr Nachschub nicht funktioniert. Die Männer haben schlicht Angst. Wenn die Taliban ihnen sagen "gib auf oder stirb", dann geben viele lieber auf."

Aber auch die reine Erschöpfung spielt eine Rolle. Der afghanische Sicherheitsanalyst Dschawed Kohistani beschreibt, wie allein die Soldaten der 2. Brigade der Armee "über sechs Monate hinweg kontinuierlich gekämpft haben, während die aus 300 Mann bestehenden Einheiten der Taliban alle 24 Stunden ausgetauscht wurden."

Helmand war schon immer eine Hochburg der Aufständischen. Gerieten sie in der Vergangenheit allzu stark in Bedrängnis, zogen sie sich zurück. Viele versteckten einfach ihre Waffen und spielten für eine Weile den einfachen Bürger. Ließ der militärische Druck dann nach, kamen sie wieder. Um sie hier in Schach zu halten, bräuchte man eine dauerhafte, schlagkräftige Militärpräsenz - ähnlich wie die Briten und dann Amerikaner sie lange Zeit gestellt haben. Die aber werden nicht zurückkommen.

Und die afghanische Regierung hat die Mittel nicht. Die am besten ausgebildeten Soldaten des Landes, die Spezialkräfte, werden schon jetzt mit Hubschraubern von einem Brandherd zum nächsten geflogen. Viele haben schon seit Monaten keinen Urlaub mehr gehabt, heißt es aus Sicherheitskreisen. Ein Ende der Kämpfe um Helmand ist wohl nicht in Sicht.

Quelle: ntv.de, Mohamad Jawad und Christine-Felice Röhrs, dpa

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