Ursula von der Leyen im Interview "Wegschauen ist für uns keine Option"
11.11.2015, 11:24 Uhr
Ursula von der Leyen ist die erste Frau im Amt des Verteidigungsministers.
(Foto: dpa)
60 Jahre nach Gründung der Bundeswehr müssen sich die Soldaten auf komplexe, schwer zu lösende Krisen einstellen, sagt die Verteidigungsministerin. Kampfeinsätze dürften kein Tabu sein.
60 Jahre nach Gründung der Bundeswehr müssen sich die Soldaten auf komplexe, schwer zu lösende Krisen einstellen, sagt die Verteidigungsministerin. Kampfeinsätze dürften kein Tabu sein.
Wir haben eine ganze Reihe wichtiger Jahrestage in den vergangenen beiden Jahren erlebt. 100 Jahre Beginn des ersten Weltkriegs, 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs, 25 Jahre Mauerfall und deutsche Einheit. Geht der Jahrestag 60 Jahre Bundeswehr da nicht ein wenig unter?
Nein, die Bundeswehr hat ihre ganz eigene Bedeutung. Wir feiern das auch am 11. November mit einem großen Zapfenstreich vor dem Bundestag. Damit gibt das Parlament auch seiner Armee die Ehre.
Die Wiederbewaffnung war nicht unumstritten. Als Alternative gab es damals die Idee einer europäischen Armee, die auch heute wieder diskutiert wird. Ist das angesichts der Differenzen in der Europäischen Union nicht eher eine Illusion als eine Vision?
Die Europäische Verteidigungsunion ist ein Fernziel und gibt uns damit auch eine Richtschnur. Wir machen mit Kooperationsprojekten in der Rüstung oder der gegenseitigen Unterstellung von Truppenteilen bereits Schritte in diese Richtung. Eine Zeitspanne bis zu diesem Fernziel kann ich Ihnen aber nicht nennen.
Im Prinzip ging es bei der Gründung der Bundeswehr um etwas, um das es heute auch wieder geht: Mehr Verantwortung Deutschlands. Besteht bei den zahlreichen Aufgaben der Bundeswehr heute von Afghanistan-Einsatz bis Flüchtlingsrettung nicht die Gefahr der Überforderung?

Soldaten helfen beim Herrichten einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin.
(Foto: picture alliance / dpa)
Wenn man es an den nüchternen Zahlen abliest, besteht die Gefahr nicht. Wir hatten mal bis zu 10.000 Soldaten im Einsatz, jetzt sind es rund 3000. Fordernd sind aber Geschwindigkeit, Gleichzeitigkeit und Komplexität der Krisen und damit die Vielfalt der Einsätze - von Mali bis Afghanistan, von Flüchtlingsrettung im Mittelmeer bis Ebola. Das fordert uns, aber dem können wir uns mit guter Vorbereitung und ausreichenden Finanzmitteln stellen.
Welche Grenzen gibt es für das Engagement der Bundeswehr in der Flüchtlingskrise?
Da gibt es zwei Vorgaben: Oberste Priorität haben unsere Einsätze, denn da geht es auch darum, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Außerdem können wir im Inland erst einmal nur im Rahmen der Amtshilfe helfen. Dieser Rahmen ist so weit, dass die Bundeswehr viel Raum zur Hilfe hat - von Feldküchen über das Herrichten von Unterkünften bis zur schnelleren Bearbeitung von Asylanträgen im Bamf (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
Es gibt ja alle möglichen Vorschläge, wie die Bundeswehr helfen kann, zum Beispiel die Beteiligung an der Grenzüberwachung.
Das ist keine Aufgabe der Bundeswehr, sondern der Polizei. Das Grundgesetz ist eindeutig. Im Rahmen der Amtshilfe leisten wir unendlich viele Aufgaben, aber die Grenze ist da, wo es um hoheitliche Aufgaben geht und die Durchsetzung von Zwang. Das darf in Deutschland nur die Polizei.
Die Lehren aus der deutschen Vergangenheit - Nazi-Herrschaft und Zweiter Weltkrieg - haben bei der Gründung der Bundeswehr eine bedeutende Rolle gespielt. Muss uns die Vergangenheit auch heute noch bei der Beteiligung an militärischen Einsätzen bremsen?
Ich finde es ganz wichtig, dass wir unsere Geschichte niemals ausblenden und vor dem Hintergrund auch heute wissen, wie groß unsere Verantwortung ist. Gerade wenn es darum geht, einen Völkermord zu verhindern, bedrängte Menschen zu schützen, stehen wir in einer besonderen Verantwortung. Wegschauen ist gerade für unser Land keine Option.
Im Kampf gegen den IS beteiligt sich die Bundeswehr nicht an den Luftschlägen, in Libyen hat sie es auch nicht getan. Sind solche offensiv geführten Kampfeinsätze nach den Erfahrungen in Afghanistan ein Tabu?
Nein. Jede Krisenlage ist unterschiedlich und wir werden auch künftig von Fall zu Fall neu abwägen, wo und wie deutsches Engagement am sinnvollsten ist. Gegen den IS kämpft eine breite Koalition von mehr als 60 Staaten. Deutschland hat sich bereiterklärt, Kämpfer im Nordirak auszubilden und sie mit Waffen zu beliefern. Andere übernehmen andere Aufgaben. Wir zeichnen uns dadurch aus, dass wir unsere Aufgaben dann auch sehr treu, professionell und vor allem nachhaltig ausüben. Das ist ein Markenzeichen, das wir auch pflegen.
Kann ein Einsatz wie der nun anstehende im Norden Malis zu einem weiteren gefährlichen Einsatz werden? Es gab ja schon Warnungen vor einem zweiten Afghanistan.
Nordmali ist eine gefährliche Region. Die Soldaten müssen in der Lage sein, sich zu schützen. Ihr Auftrag lautet aber Aufklärung und Unterstützung vor allem der anderen internationalen Partner. Wir müssen auch noch Gespräche insbesondere mit unseren niederländischen Partnern und den Vereinten Nationen führen und es steht noch mindestens eine weitere Erkundungsmission aus. Die Entscheidung wird entweder noch in diesem Jahr oder Anfang nächsten Jahres fallen.
Glauben Sie, dass die Bundeswehr von der deutschen Bevölkerung, die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient? Oder gilt immer noch das Wort vom "freundlichen Desinteresse", das Altbundespräsident Horst Köhler einmal geprägt hat?
Ich erlebe sehr viel Zustimmung in der Bevölkerung für die Leistung der Truppe, gerade in der Flüchtlingskrise, ob Seenotrettung im Mittelmeer oder die Tausenden helfenden Hände, die täglich in den Bundesländern und Kommunen mit anpacken. Und mit der sich verschärfenden Sicherheitslage in den Herkunftsländern wächst auch das Verständnis in der Bevölkerung für das, was die Bundeswehr im Ausland an Präventionsarbeit leistet. Für die Anerkennung sind die Soldatinnen und Soldaten sehr dankbar.
Wie sieht für Sie die Bundeswehr der Zukunft aus?
Die Bundeswehr der Zukunft wird sich hochmodern aufstellen müssen, was das Personal angeht. Die Soldatinnen und Soldaten müssen nicht nur technisch, sondern vor allem auch menschlich in der Lage sein, mit großer Verantwortung hochkomplexe Krisen zu meistern. Natürlich brauchen sie dabei auch eine zuverlässige und auftragsgerechte Ausrüstung. In Zukunft werden wir den Fokus auch stärker auf IT-gestützte Verteidigung legen müssen. Und die Soldatinnen und Soldaten werden sich auf komplexe, schwer zu lösende Krisen mit schwer identifizierbaren, nicht staatlichen Gegnern einstellen müssen.
Welche Rolle werden Migranten in der Bundeswehr der Zukunft spielen?
Mit deutschem Pass gerne. Wir lernen jetzt gerade in der Flüchtlingskrise, wie gut und hilfreich es ist, dass wir ein Spiegel der Gesellschaft sind. Ich erlebe jetzt junge Soldaten, die Hervorragendes leisten als Sprachmittler, weil sie die arabische Sprache fließend beherrschen. Das zeigt, wie gut Vielfalt tut.
Wird es künftig in der Bundeswehr Militärimame geben, so wie es heute schon Militärbischöfe und -pfarrer gibt?
Wir stehen solchen Gedanken offen gegenüber. Das ist eher eine Frage der Logistik, weil Soldatinnen und Soldaten muslimischen Glaubens weit verstreut leben und arbeiten. Wir sind im Augenblick dabei zu prüfen, wie groß der Bedarf in der Bundeswehr dafür ist und welche Alternativen zur Auswahl stehen.
Quelle: ntv.de, Interview: Michael Fischer, dpa