Terror, Taliban und Pakistan "Es ist fünf nach zwölf"
05.11.2009, 14:42 UhrIm Kampf gegen die Taliban fordern Experten ein entschlossenes Vorgehen Pakistans. Das Land müsse "mit aller Gewalt gegen die Radikalen vorgehen und sie ausmerzen". Für Verhandlungen sei es zu spät. Zugleich warnen sie, sich beim Aufbau Afghanistans auf Pakistan zu verlassen - und schlagen Truppen islamischer Staaten als Unterstützung vor.
Angesichts der zunehmenden Anschläge in Pakistan sprechen sich Experten für ein hartes militärisches Vorgehen gegen die Taliban aus. Zugleich warnen sie gegenüber n-tv.de davor, sich im Kampf gegen die Terroristen sowie beim Krieg in Afghanistan zu sehr auf die Hilfe Pakistans zu verlassen.
"Es ist fünf nach zwölf: Leider ist derzeit die einzige Lösung, mit aller Gewalt gegen die Radikalen vorzugehen und sie auszumerzen", sagt Gregor Enste, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Pakistan, im Gespräch mit n-tv.de. Die Zeit der Dialoge sei vorbei, das habe die Regierung lange genug versucht. Als die Taliban in die autonomen Stammesgebiete im Westen des Landes eindrangen und dort die Strukturen der Selbstverwaltung zerstörten, habe das noch kaum jemanden interessiert. Erst mit der Eroberung des Swat-Tals sei die Armee aufgewacht.
Dem stimmt auch Christian Wagner zu, Leiter der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin: "In Waziristan ist das militärische Vorgehen derzeit die einzige Lösung." Nach Einschätzung Wagners stellen die jüngsten Anschläge in Pakistan eine neue Dimension des Terrors für das Land dar, weil erstmals auch gezielt Generäle der Armee angegriffen würden.
"Zu lange gezögert"
"Die pakistanische Regierung hat im Kampf gegen die Extremisten zu lange gezögert", sagt Enste. "Erst als der Terror in die Städte getragen wurde, kümmerten sich auch die Reichen und Einflussreichen um die Taliban", so der Stiftungsvertreter. Zuvor fanden die Extremisten in den autonomen Stammesgebieten und im Nordwesten des Lands einen ungestörten Rückzugsraum, Armee und Regierung schlossen immer wieder Friedensabkommen mit den verschiedenen radikalen Gruppen, um sich Ruhe und Frieden zu erkaufen.
Doch nun ist der Druck zu groß geworden - durch die beinahe täglichen Anschläge, die eigene Bevölkerung und die verbündeten USA. Die Armee, in Pakistan schon immer die entscheidende Instanz in Sicherheitsfragen, hat entschieden zu handeln und gegen die Taliban vorzugehen. Fast scheint es, als könnten die Extremisten nun von Pakistan und den USA gemeinsam in die Zange genommen werden. Der Eindruck täuscht allerdings: Pakistan hat bislang wenig Interesse an einem stabilen Afghanistan und ohne einen Strategiewechsel werden die afghanischen Taliban in der Grenzregion auch weiterhin Schlupfwinkel finden.
"Gute und schlechte Taliban"
"Pakistan unterscheidet zwischen guten und schlechten Taliban", sagt Wagner von der SWP. "Die Guten sind die aus Afghanistan, die in Pakistan geduldet werden und dem Land eine Mitsprache in Afghanistan ermöglichen", erklärt der Asienexperte. Diese "guten" Taliban um den afghanischen Anführer Mullah Omar dienen Pakistan als Einflussinstrument in Afghanistan und werden im Land geduldet, weil sie sich ruhig verhalten und keine Anschläge verüben. Die "Schlechten", gegen die nun die Offensive in Waziristan läuft, sind für die vielen Anschläge in jüngster Zeit verantwortlich und zu einem großen Teil ein pakistanisches Eigengewächs.
Denn Pakistan hat es mit einer Vielzahl von Extremisten zu tun, die im Westen oft unter dem Titel Taliban zusammengefasst werden. Dazu zählen die afghanischen Taliban, ausländische Al-Kaida-Kämpfer, Usbeken und die sogenannten pakistanischen Taliban. Diese einheimischen Radikalen sind ehemalige Mudschaheddin, die in den 70er und 80er Jahren von Geheimdienst und Armee für den Kampf in Kaschmir gegen den Erzfeind Indien ausgebildet wurden. Es ist die immer gleiche Lehre, die auch die USA in Afghanistan machen mussten: Aus den ehemals nützlichen Extremisten ist ein Feind erwachsen, der sich in Pakistan nun vor allem in der Taliban-Bewegung Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP) unter Führung von Hakimullah Mehsud wiederfinden: 10.000 bis 15.000 Kämpfer, die sich größtenteils aus der Region Punjab rekrutieren, mit rund 40 Millionen Einwohnern der größte und einer der ärmsten Bezirke des Landes.
Für den Westen gefährlich

Außenministerin Clinton mit Stammesältesten: Die USA setzen Pakistan zunehmend unter Druck.
(Foto: dpa)
Experte Enste sieht in Punjab auch das größte, nachwachsende Potenzial für weitere Extremisten. Gut 20 Millionen junge Männer lebten dort in Armut, größtenteils ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft. "Da reicht es wenn bereits ein Prozent gewaltbereit ist – das wären 2000 potenzielle Dschihaddisten", warnt der Stiftungsvertreter.
Für den Westen und die USA ist die pakistanische Unterscheidung zwischen guten und schlechten Taliban zwar wichtig für ihre Strategie im Kampf gegen den Terror, gefährlich sind aber beide Gruppen gleichermaßen: Die einen als Gegner in Afghanistan, die anderen als potenzielle Al-Kaida-Helfer, deren Kämpfer in ihren Reihen Unterschlupf finden und sich mit den ehemaligen Mudschaheddin und anderen Radikalen zu einem "üblen Gebräu" vermischen, wie es Enste nennt.
Gegner Indien dominiert alles
Die pakistanische Unterscheidung führt zudem dazu, dass das Land nicht als große Stütze für den Kampf in Afghanistan taugt. "Die Taliban sind in Pakistan verhasst, weil sie den Terror ins Land getragen haben", erklärt Enste. Das gilt aber nicht für die aus Afghanistan, die nach wie vor als strategische Partner Pakistans angesehen werden, um den wachsenden Einfluss Indiens in Afghanistan einzudämmen. Das mag etwas merkwürdig klingen, doch die gesamte pakistanische Sicherheitsstrategie ist vor allem auf einen Gegner ausgelegt: Indien.
"Pakistan muss seine Außen- und Sicherheitspolitik auf neue Füße stellen und vor allem das Verhältnis zu Indien neu definieren", sagt Asienexperte Wagner. Das heißt, die Armee muss den "Zustand des Leugnens" beenden, wie Enste es nennt: Nicht Indien ist die größte Bedrohung, sondern die innere Gefahr durch die Extremisten - ein Paradigmenwechsel, der einen grundsätzlichen Sinneswandel voraussetzt.

Die pakistanische Armee entscheidet über die politische und militärische Strategie des Landes.
(Foto: REUTERS)
Beide Experten sehen aber Zeichen der Hoffnung auf einen solchen Sinneswandel. "In Pakistan ringen Politik und Armee derzeit darum, wie sie das Verhältnis zu den Nachbarstaaten neu definieren wollen. Die gegenwärtige Regierung ist an einer Annäherung an Indien interessiert", sagt Wagner. Indien verhalte sich zudem derzeit an der Grenze ruhig, sodass Pakistan zusätzliche Truppen für den Kampf gegen die pakistanischen Taliban einsetzen könne. Das Verhältnis zu den afghanischen Taliban aber werde die Nagelprobe für das pakistanische Militär sein. "Pakistan muss seine Armee umbauen und den Konflikt mit Indien begraben", so Wagner.
Islamische Truppen in Afghanistan?
Verbündete Staaten könnten den Sinneswandel wohl beschleunigen. "Die Gruppe der 'Freunde eines demokratischen Pakistans', zu der auch die USA, China und Saudi-Arabien gehören, wäre ein Forum von Staaten, die Einfluss auf die moderaten Kräfte der pakistanischen Armee ausüben könnte, um diese Transformation zu befördern", sagt Wagner. Die Nachbarstaaten müssen also in den Prozess eingebunden werden, und wichtige militärische Verbündete wie die USA und China ihren Einfluss auf die Armee geltend machen.
Fraglich bleibt allerdings, ob Pakistan beim Krieg in Afghanistan zu einem Verbündeten des Westens werden kann. Das Verhältnis beider Länder war "bis letztes Jahr grottenschlecht", sagt Enste von der Böll-Stiftung. "Das Misstrauen zwischen beiden Ländern ist sehr groß, auch in der Zivilgesellschaft." Erst seit dem Amtsantritt des neuen pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari im September 2008 verbessern sich die Beziehungen auf höchster Ebene, Afghanistans Präsident Hamid Karsai hat ihn bereits mehrfach getroffen. Wichtigste Voraussetzung für eine echte Annäherung beider Länder wäre aber, dass Afghanistan die gemeinsame Grenze anerkennt.
Für den weiteren Weg zur Lösung der Krise in Afghanistan hat Stiftungsleiter Enste zudem noch eine andere Vision. Seiner Einschätzung nach würde ein baldiger Abzug der ISAF-Truppen das Land zurück in Chaos und Terror stürzen, "das Land braucht noch mindestens 10 bis 20 Jahre die Unterstützung ausländischer Soldaten". Enste würde es deshalb begrüßen, wenn die ISAF-Truppen durch Soldaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) abgelöst würden. "Länder wie Saudi-Arabien, Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate würden eine größere Legitimation in Afghanistan genießen." Und vielleicht auch die Annäherung an Pakistan erleichtern.
Quelle: ntv.de