WFP fordert Wende "Hungerkrise war absehbar"
30.05.2008, 12:00 UhrDie Gründe für die aktuelle Hungerkrise sind vielfältig: zu geringe Produktion, leere Speicher, boomende Nachfrage in China, Indien und Russland, Biosprit, Ölpreis und die starke Zunahme von Naturkatastrophen. Eine Rolle spielt jedoch auch die Agrarpolitik der EU und eine einseitige Ausrichtung der Entwicklungspolitik, sagt Ralf Südhoff, Leiter des Berliner Büros des Welternährungsprogramms (WFP). "Wir brauchen eine klare Wende in der Entwicklungspolitik", fordert Südhoff im Gespräch mit n-tv.de. Angesichts der weltweiten Lebensmittelkrise müsse verstärkt den Kleinbauern geholfen und in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer investiert werden.
n-tv.de: Die Preise für Nahrung sind in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Hat Sie diese Entwicklung überrascht?
Ralf Südhoff: Die Verknappung der Lebensmittel war schon eine ganze Weile absehbar. In den vergangenen acht Jahren Jahren hat die Welt bis auf ein einziges Jahr mehr Nahrungsmittel verbraucht als geerntet wurden. Die Getreidevorräte sind auf dem niedrigsten Stand seit 25 Jahren, viele Speicher sind leer. Dennoch - mit einer derartig massiven Preisexplosion haben wohl nur wenige gerechnet.
Wer leidet besonders unter dem Preisanstieg?
Am anfälligsten sind Länder, die stark von Nahrungsimporten abhängig sind - und das ist die große Mehrheit der Entwicklungsländer. Dann trifft es aber auch Staaten, von denen man dies nicht gedacht hätte. Beispielsweise Mexiko und Indonesien, die eigentlich schon auf einem Level waren, dass man dachte, Hunger spiele dort keine Rolle mehr. Allein in Indien leben über 210 Millionen Hungernde. In all diesen Ländern leiden natürlich besonders die Ärmsten, die bislang schon kaum über die Runden gekommen sind, mehr als 850 Millionen weltweit. Hinzu kommen nun aber die sozusagen Zweitärmsten: Menschen, die bislang rund zwei Drittel ihres Einkommens nur für Essen ausgeben mussten und so mehr oder minder durchkamen. Sie müssen jetzt vielfach feststellen, dass ihr Essen doppelt so teuer ist wie früher. Mehr als 100 Millionen weitere Menschen sind deshalb jetzt vom Hunger bedroht.
Wie ist es überhaupt zu diesem rasanten Preisanstieg gekommen?
Ein Grund ist die boomende Nachfrage der neuen Mittelschichten in China, Indien und auch Russland. Das ist ein langfristiger Trend. Diese Mittelschichten essen nicht nur mehr als früher, sie essen auch anders - wesentlich mehr Fleisch, was für das Nahrungsangebot extrem ineffizient ist. Man muss sieben Kilo Getreide in ein Rind stecken, um ein Kilo Fleisch rauszubekommen. Dadurch wird immer mehr Getreide zu Tierfutter, wobei am Ende der Kette weniger Essen herauskommt
Man kann den Schwellenländern schlecht vorwerfen, dass sie unseren Lebensstil übernehmen.
Nein, natürlich nicht, zumal der Deutsche pro Kopf noch weit mehr Fleisch isst als der durchschnittliche Chinese. Aber es hat trotzdem Konsequenzen, wenn der Fleischkonsum von 1,3 Milliarden Chinesen pro Jahr um rund fünf Prozent zunimmt. Dieser langfristige Trend hat dazu beigetragen, dass die Nahrungsmittelpreise allein im letzten Jahr um über 50 Prozent gestiegen sind.
Was ist mit dem Biosprit-Boom?
Der hat das Preisproblem ebenfalls verschlimmert. Die USA haben im vergangenen Jahr ein Drittel ihrer Maisernte zu Ethanol verarbeitet statt zu Essen. Das ist so lukrativ, dass sogar immer mehr Entwicklungsländer in Biosprit investieren. Wer seine Ernte an eine Raffinerie verkauft, kann oft schlicht wesentlich mehr verdienen als wenn er mit einer Bäckerei handelt. Das hängt auch mit einem weiteren Grund für die Krise zusammen: den rasant gestiegenen Ölkosten. Diese haben zum einen den Preis für Kunstdünger explodieren lassen, der sehr energieintensiv ist. Hinzu kommen die Spritkosten für landwirtschaftliche Maschinen sowie die Transportkosten der Nahrungsmittel, die oft um die halbe Welt verschifft oder gefahren werden. Ein weiterer Punkt ist, dass im Zuge der gestiegenen Nahrungsmittelpreise auch Saatgut immer teurer wird. Nicht zuletzt spielt der Klimawandel eine wesentliche Rolle: Die Zahl der Naturkatastrophen hat sich seit Mitte der 90er Jahre ungefähr verdoppelt.
Welche Rolle spielen die Agrarsubventionen des Westens?
Die Agrarpolitik der EU ist in dieser Hinsicht nicht sehr hilfreich. EU-Lebensmittel sind so stark subventioniert, dass europäische Produkte auf manchen Märkten in Afrika billiger sind als die einheimische Ware. Das kann die Entwicklungshilfe nicht ausgleichen, und es wäre auch nicht ihre Aufgabe. Ohnehin geht ein Großteil der Entwicklungshilfe gar nicht in die Landwirtschaft. Vor 25 Jahren wurden noch rund 17 Prozent der Entwicklungshilfe in Agrarprojekte gesteckt. Heute sind es nur noch vier Prozent - obwohl drei Viertel der Armen auf dem Land leben. Die Landwirtschaft war in den letzten Jahrzehnten ein Stiefkind der Entwicklungspolitik.
Wo fließt die Entwicklungshilfe denn dann hin?
Das Geld geht oft durchaus in sinnvolle Projekte, in Infrastrukturmaßnahmen, HIV-Projekte und dergleichen. Die Entwicklungspolitik hat sich aber vor allem extrem an urbanen Zentren ausgerichtet, in den Exportindustrien aufgebaut wurden, zum Beispiel um Billigkleidung zu produzieren. Daran ist nichts falsches, aber es braucht die richtige Balance: Lange Zeit hat man so massiv die Menschen vom vernachlässigten Land in die Stadt gelockt, ohne ihnen ausreichend Arbeitsplätze bieten zu können. Stattdessen hätte man Millionen Menschen mit eher minimalen Mitteln so auf dem Land unterstützen können, dass sie sich selbst versorgen und bald ihre Ernte auch verkaufen könnten.
Der Weltagrarrat hat erst kürzlich eine radikale Umkehr der Landwirtschaft gefordert: Statt industrieller Produktion eine Rückkehr zur nachhaltigen Produktion. Ist das die Lösung des Problems?
Alle Experten sind der Ansicht, dass man das Angebot massiv ausweiten muss. Insofern ist die Forderung nicht im Sinne von "Vergesst mal die ganzen Großbauern" zu verstehen. Ich würde den Vorschlag eher zunächst als einen Schritt zur Armutsbekämpfung sehen: Das Entscheidende ist, jetzt nicht den Großbauern zu helfen, sondern den Kleinbauern und Landarbeitern. In einem nächsten Schritt werden die hoffentlich so schlau sein, sich zu Kooperativen zusammenzutun, sich beraten zu lassen, Marketing zu beginnen, um produktiver zu wirtschaften. Die Kleinbauern in den Entwicklungsländern arbeiten meist extrem ineffizient: Sie haben keinen Zugang zu Dünger, besitzen nicht das Know-how oder einfachste Werkzeuge, um sich beispielsweise ein simples Bewässerungssystem zu schaufeln. Wenn sie besser unterstützt würden, könnten sie mit einfachsten Mitteln wesentlich höhere Ernten erzielen. Auch deshalb haben wir jetzt in zehn Ländern Pilot-Programme gestartet, mit denen wir Kleinbauern helfen, sich zu Kooperationen zusammenzuschließen und das WFP zu beliefern.
Ihre UN-Schwesterorganisation FAO schätzt, die Welt könnte zwölf Milliarden Menschen ernähren. Wo liegt also das Problem, wenn das Angebot ausgeweitet werden muss?
Diese Zahl ist die Antwort auf die wichtige idealtypische Frage, welche natürlichen Ressourcen die Erde theoretisch für den Nahrungsanbau bietet. Sie berücksichtigt bewusst nicht beispielsweise politische Prioritäten oder Kriege, die ganze Regionen unnutzbar machen. Trotzdem gibt die FAO damit eine wichtige Orientierung: Zur Zeit leben erst rund 6,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Wir können das Hungerproblem also lösen, selbst wenn die Prognosen stimmen und bis 2050 rund 9 Milliarden Menschen auf der Erde leben wenn wir dies politisch wollen.
Manche Experten sagen, dass die steigenden Nahrungsmittelpreise auch eine Chance für die Bauern sind.
Vorerst kaum für die Kleinbauern. Ihre Ernte reicht oft nicht einmal, um die eigene Familie zu versorgen. Sie müssen Essen dazukaufen und zahlen dann die gestiegenen Preise wie auch für das Saatgut, das sie sich kaum noch leisten können. Deshalb ist für viele die nächste Ernte in Gefahr, statt dass sie das große Geschäft erwartet wenn wir ihnen nicht schnell helfen.
Muss dafür aber nicht die Entwicklungshilfe andere Prioritäten setzen?
Sicher. Wir brauchen eine klare Wende in der Entwicklungspolitik, sowohl in den betroffenen Ländern selbst als auch in den Industrienationen. Auch die afrikanischen Staaten hatten versprochen, zehn Prozent ihres Bruttosozialprodukts in die Agarwirtschaft zu reinvestieren tatsächlich liegt der Anteil deutlich niedriger. Wenn jetzt neue Prioritäten gesetzt werden und wieder mehr in die Landwirtschaft investiert wird, ist das auch eine Chance. Selbst unter den schwierigen Handelsbedingungen wie im Moment haben die Bauern natürlich viel mehr Gelegenheit, wenn sie ihr Feld ordentlich bestellen, davon auch zu profitieren. Aber dafür muss man jetzt in diesen Bereich investieren.
Das heißt konkret?
Die Kleinbauern brauchen Mikrokredite, sie brauchen Infrastruktur, zum Beispiel eine Sandpiste bis ins nächste Dorf, damit sie dort ihre Ernte überhaupt anbieten können. Sie brauchen ordentliche Beratung: Warum es sinnvoll ist, sich in Kooperativen zusammenzuschließen, sich Technik und Werkzeuge zu teilen und wie sich die Märkte entwickeln. Wie soll ein Kleinbauer im Hinterland von Mozambik erfahren, dass es im nächsten Jahr einen Maismangel geben könnte? Hier können wir sehr einfach viel mehr effiziente Hilfen geben.
Dann könnte alles gut werden?
Langfristig schon, wir sehen hier durchaus auch eine einmalige Chance. Kurz- und mittelfristig lassen sich schwer Prognosen abgeben. Viel hängt allein vom Wetter und von den immer häufiger auftretenden Wetterkatastrophen ab. Auf der einen Seite sind viele Ernteprognosen für Weizen oder Reis derzeit sehr gut. Trotzdem gehen fast alle Experten davon aus, dass die Nahrungspreise zumindest in den nächsten Jahren weiter steigen werden. Das Einzige, was sich relativieren könnte, ist die Spekulationsblase, die wir gerade zusätzlich zu der eigentlichen Krise erleben.
Wie sieht es mit dem Milleniumsziel aus, bis 2015 den Anteil der Hungernden zu halbieren?
Langfristig gibt es große Erfolge im Kampf gegen den Hunger: Noch vor 40 Jahren litt über ein Drittel der Weltbevölkerung Hunger, rund 37 Prozent der Menschen. Heute sind es fast zwei Drittel weniger, etwa 13 Prozent. Das Milleniumsziel, im Vergleich zu 1990 den Anteil der Hungernden noch mal zu halbieren, ist aber in der Tat gefährdet, insbesondere jetzt durch die Nahrungsmittelkrise.
Lange Zeit hieß es: Es gibt kein Nahrungsmittelproblem, sondern nur ein Verteilungsproblem. Gilt das noch?
Nein die Ära der Nahrungsmittelüberschüsse ist vorbei. Wir haben deshalb heute ein Angebots- und ein Verteilungsproblem. Angesichts von EU-Butterbergen und Milchseen war früher in der Tat das Verteilungsproblem offensichtlich. Jetzt wird aber zunehmend klar: Es gibt auch ein Angebots- und Produktionsproblem. Durch den steigenden Konsum in Asien und das Bevölkerungswachstum wird die derzeit produzierte Menge an Nahrungsmitteln nicht mehr reichen. Man muss das Angebot drastisch erhöhen.
Die EU will inzwischen brachliegende Flächen reaktivieren.
Ja, die EU hat hier in diesem Jahr den Rückwärtsgang eingelegt. Zehn Prozent der brachliegenden Agrarflächen sollen für ein Jahr wieder genutzt werden, wahrscheinlich auch fortan. Auch die Osteuropäer haben bereits darauf hingewiesen, dass sie Millionen Hektar brachliegender Flächen hätten. In der EU wächst die Hoffnung, dass die Landwirtschaft wieder ein boomender Zweig wird und nicht ein Sozialfall, den man ständig mit der Hälfte des Budgets füttern muss.
Ist das auch eine gute Nachricht für die Entwicklungsländer?
Wir begrüßen alle sozial und ökologisch nachhaltigen Versuche, das Angebot an Nahrungsmitteln zu erhöhen und so die Lage auf den Weltagrarmärkten zu entspannen. Ein gewisser Ausbau der EU-Produktion wird aber das Hungerproblem nicht im Kern lösen dafür müssen wir die Produktion und auch die Produktivität in den Entwicklungsländern selbst erhöhen. Nur so helfen wir direkt den Ländern und Menschen vom Preisboom zu profitieren, die jetzt unter ihm leiden. Und auch rein ökonomisch betrachtet ist das Potenzial dort viel höher: Die Produktivität eines deutschen Bauern lässt sich mit viel Aufwand jährlich noch um ein paar Prozent steigern. Afrikanische Kleinbauern holen heute aber oft nur etwa ein Zehntel der Ernte aus einem Hektar, die ein deutscher Bauer einfährt. Das Potenzial ist also riesig.
Immerhin scheint die Welt aufgerüttelt durch die derzeitige Hungerkrise.
Das stimmt die spannende Frage ist jetzt aber, wie lange das Interesse anhält. Wie bei den meisten Krisen gilt auch hier der CNN-Effekt: Die Katastrophe muss möglichst medienwirksam sein, damit die Aufmerksamkeit der Welt auf sie gerichtet wird so wie jüngst, als es plötzlich Bilder von den Hunger-Unruhen auf Haiti gab, die keineswegs die ersten Unruhen waren. Erst dann kommt die Berichterstattung, fließen die Spendengelder und die Notoperationen können starten. Das Problem ist allerdings: 90 Prozent der Hungernden leben nicht in medial attraktiven Krisen. Wer schon lange irgendwo im Hinterland sein Dasein fristet und sich jetzt noch mit steigenden Lebensmittelpreisen herumschlagen muss, interessiert nicht. Hinzu kommt, dass die meisten Hungernden nicht direkt verhungern, sondern an den Folgen der Mangelernährung sterben. Gesundheitlich angeschlagen, werden sie schon von der erstbesten Grippe dahingerafft. Dadurch sterben jedes Jahr an Hunger mehr Menschen als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen es ist aber ein schleichender Prozess, der sich schlecht als News präsentieren und bebildern lässt. Und wo es keine Bilder gibt, gibt es auch kaum Hilfe - weder von Regierungen, noch von Privatleuten.
Quelle: ntv.de, Mit Ralf Südhoff sprach Gudula Hörr