Dossier

Bürger fordern Neuwahlen Kleine Revolution in Island

"Ihr seid gefeuert", schreien zornige Isländer ihren Ministern bei der Stürmung einer Sitzung einfach ins Gesicht und scheinen recht zu behalten. In der Hauptstadt Reykjavik gilt es nach der Welle neuer und zuletzt auch gewalttätiger Proteste gegen die katastrophalen Folgen der Finanzkrise inzwischen als fast sicher, dass Ministerpräsident Geir Haarde das Handtuch werfen, die große Koalition auflösen und sich vorzeitigen Neuwahlen stellen muss.

Fast schon einen Hauch von "Montagsdemonstrationen" wie zur Endzeit der DDR haben die täglichen Proteste über Reykjavik gelegt. Die Sozialdemokraten in Islands Hauptstadt mussten erst Beschimpfungen von Demonstranten im Sitzungssaal über sich ergehen lassen, um dann deren wichtigste Forderung zu erfüllen: Sie sprachen sich für vorzeitige Neuwahlen im Mai aus. Die Demonstranten jubelten und zogen weiter zum Parlament.

Massivste Auseinandersetzungen seit 1949

Sogar nachts belagern inzwischen mehr als jeweils 1000 Demonstranten das Gebäude des ehrwürdigen "Althing" - eine hohe Zahl für die kleine Inselrepublik mit 320.000 Einwohnern. Solch massive Auseinandersetzungen hat Island seit dem NATO-Beitritt 1949 nicht erlebt. Die Bürger verlangen personelle Konsequenzen der Politiker, nachdem eine kleine Gruppe ehrgeiziger Banker und Finanzakrobaten das ganze Land mit ihren gescheiterten Kreditabenteuern ruinieren konnte.

Bisher hatten Ministerpräsident Haarde und auch der bei den Protestierenden besonders verhasste Nationalbankchef Davd Oddsson stets jede Mitverantwortung für das Finanz-Desaster ihres Landes zurückgewiesen. Jüngst aber gaben erstmals auch der Regierungschef und führende Vertreter von Haardes konservativer Unabhängigkeitspartei klein bei und erklärten, sie hätten nichts gegen Wahlen bis Jahresende.

Erste Steinwürfe aus der Bevölkerung

Dabei hatten sich Demonstranten in der Nacht zuvor erstmals durch Steinwürfe gegen die Polizei selbst disqualifiziert. Ein Beamter musste nach einem Steinwurf mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus. Doch der Zorn in der Bevölkerung sitzt offenbar zu tief, als dass ein solches Ereignis die Sympathien neu hätte verteilen können.

Zu viele Isländer sind durch den Zusammenbruch der drei größten Banken von gesichert wirkendem Wohlstand ins Nichts gefallen. Die Arbeitslosenzahlen explodieren, der Wert von Wohneigentum ist weiter im freien Fall, die Landeswährung Krone liegt weiter in einem unfassbaren Tief, immer mehr hoch qualifizierte Arbeitskräfte wandern aus, und Renten müssen zusammengestrichen werden.

Sonderparteitag angesetzt

Gespannt warten die Isländer auf einen Sonderparteitag von Haardes Unabhängigkeitspartei in einer Woche. Dort könnten die Weichen für ein schnelles EU-Beitrittsgesuch der Nordeuropäer gestellt werden. Haarde hatte sich bisher dagegen gestemmt, weil er Islands enorme Fischereieinnahmen nicht in Brüsseler Gemeinschaftstöpfe fließen lassen wollte. Doch das gilt inzwischen auch bei konservativen Isländern als Bagatellproblem gegenüber der Havarie ihrer gesamten Wirtschaft einschließlich Staatsfinanzen und Währung.

Und Probleme hat auch Haardes eigene Partei: Umfragen ergeben derzeit eine deutliche Linksmehrheit für die Sozialdemokraten von Außenministerin Ingbibjörg Slrn Gsladttir und den bisher oppositionellen Links-Grünen. Für Island schon eine kleine Revolution.

Thomas Borchert, dpa

Quelle: ntv.de

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