Dossier

Interview mit einem Heimkind "Misshandlungen mit System"

"Im Namen Gottes wurden Heimkinder geprügelt, malträtiert, gequält, erniedrigt und entwürdigt, um ihnen Disziplin, Gehorsam, Fleiß, Unterwerfung und natürlich auch den Glauben an Gott aufzuzwingen", sagt der Autor Alexander Markus Homes, der selbst in Heimen aufgewachsen ist. Von dem Runden Tisch Heimkinder, der an diesem Dienstag das erste Mal zusammenkommt, erwartet er "ein unwiderrufliches Mea Culpa" der verantwortlichen Institutionen. Homes glaubt allerdings nicht, dass es dazu kommen wird.

n-tv.de: Schätzungsweise 800.000 Kinder lebten zwischen 1945 und 1975 in westdeutschen Heimen. Gibt es eine Zahl, wie viele von ihnen misshandelt oder sexuell missbraucht wurden oder Zwangsarbeit leisten mussten?

Alexander Markus Homes: Nein, das ist unbekannt.

Josef Winkler, der Grünen-Obmann im Petitionsausschuss, schätzt, dass Misshandlungen in vielleicht 10 bis 15 Prozent der Heime vorkamen. Halten Sie das für eine realistische Zahl?

Es waren auf jeden Fall mehr Heime. Die Misshandlungen hatten System, da reichen 10 oder 15 Prozent nicht aus. Ich gehe eher davon aus, dass es in 70 Prozent der Heime Misshandlungen verschiedenster Art gegeben hat: physische, psychische und auch verbale Gewalt, die an wehrlosen Heimkindern ausgeübt wurde. Die Kirchen versuchen heute, den Eindruck zu erwecken, als seien das alles Einzelfälle gewesen.

Was meinen Sie mit "System"?

Damit meine ich, dass ich gerade mit Blick auf konfessionelle Heime davon ausgehe, dass der "strafende Gott" gezielt als Unterdrückungsinstrument eingesetzt wurde, um Kindern Gehorsam, oder besser: Unterwerfung abzuverlangen. Im Namen Gottes wurden Heimkinder geprügelt, malträtiert, gequält, erniedrigt und entwürdigt, um ihnen Disziplin, Gehorsam, Fleiß, Unterwerfung und natürlich auch den Glauben an Gott aufzuzwingen. Insofern spreche ich von einem System: Das war der Fokus der Heimerziehung - alles daran zu setzen, um aus Kindern aus der Unterschicht unterwürfige, gottgläubige Menschen zu machen.

Haben Sie eine Erklärung dafür? Antje Vollmer sagt, Misshandlungen habe es auch in Schulklassen, Vereinen und Elternhäusern gegeben, sie sagt: "Ich glaube, wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass es damals in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit viele Bereiche gab, in denen man mit Kindern nicht umgegangen ist wie mit der Zukunft der Gesellschaft."

Natürlich muss man berücksichtigen, dass Gewalt in verschiedenen Formen nicht nur in Heimen ausgeübt wurde, da hat Frau Vollmer Recht. Aber auch das spricht ja für ein System.

Sie haben schon früh über die Misshandlung von Heimkindern geschrieben. Auf ihre erste Veröffentlichung reagierte die katholische Kirche nicht mit einer Entschuldigung, sondern mit einer Klage.

Das war Anfang der achtziger Jahre. Ich bin in katholischen Heimen groß geworden. 1961, mit eineinhalb Jahren, bin ich in ein Säuglingsheim in der Eifel gekommen, wobei ich sagen muss, dass mir keine Erinnerungen lebhaft sind, dass es da zu irgendwelchen Misshandlungen gekommen ist. Die schlimmste Zeit, die ich im Rahmen der Heimerziehung erlebt habe, waren die zehn Jahre im Sankt Vincenzstift in Rüdesheim-Aulhausen, 1966 bis 1975. Dieses Heim hat 1981, als meine Heimbiographie erschien, eine einstweilige Verfügung gegen das Buch erwirkt. Vor dem Landgericht Wiesbaden wurde dann ein Vergleich geschlossen: In das Buch wurde der Satz aufgenommen: "Die in diesem Buch geschilderten konkreten Ereignisse, Personen und Zustände sind nicht Dokumentation, sondern literarisch verarbeitet und verfremdet." Obwohl zahlreiche andere ehemalige Heiminsassen unter Eid bestätigten hatten, dass es zu Misshandlungen in verschiedenen Variationen gekommen war.

Welche Vorwürfe haben Sie gegen das Vincenzstift erhoben?

Es ist dort jahrelang zu psychischer, physischer und verbaler Gewalt gekommen. Es wurden Stöcke eingesetzt, es wurden Kleiderbügel eingesetzt, es wurde die Hand eingesetzt, es wurde die Faust eingesetzt - übrigens von Nonnen. Nach der Beichte gab der Priester häufig an die Nonnen weiter, was man erzählt hatte. Die jeweilige Gruppenleiterin bestrafte einen dann mit einer Tracht Prügel. Dann gab es Momente, die für mich traumatisierend waren: Wenn eine Nonne gestorben war, wurde die im Keller in einer Art Leichenhalle aufgebahrt und wir mussten alle Abschied nehmen. Wer das nicht wollte, wurde regelrecht dort hineingezwungen, manche auch mit Prügel. Traumatisch war auch die permanente Angst. Wir mussten immer aufpassen, dass wir uns nicht falsch verhielten. Und all das geschah vor dem Hintergrund der Religion. In meinem Buch von 1981 habe ich geschrieben: "Wenn wir bedroht, bestraft, geschlagen, misshandelt wurden, so haben die Nonnen stellvertretend im Auftrag Gottes gehandelt. Es waren Gottes Worte, Gottes mahnende und aggressive Blicke, Gottes Hände, Gottes Füße, die uns beschimpften, demütigten, bestraften, prügelten. Es war Gottes Wille: die uns auffressenden Ängste, Schmerzen, Trauer, Vereinsamung, die sich immer tiefer in unsere Seelen hineinbohrte und hineinfraß. Wir hatten unsere Kindheit Gott und seinem Sohn Jesus Christus zu verdanken."

Eine breite Debatte ist erst 20 Jahre später in Gang gekommen.

Richtig. Die Kirche hat mich einigermaßen erfolgreich als unglaubwürdig dargestellt. Damals wurde der Eindruck erweckt, als hätte es solche Zustände nicht nur nicht im Vincenzstift, sondern generell in Heimen nie gegeben. Dann hat man lange nichts zu dem Thema gehört - abgesehen von meinen Veröffentlichungen. Größere Beachtung fand das Thema erst, nachdem 2003 ein Artikel von Peter Wensierski im "Spiegel" erschien.

Einige Vertreter der Kirchen haben sich für die Misshandlung der Heimkinder entschuldigt. Reicht Ihnen das?

Nein. Das reicht überhaupt nicht. Eine Anerkennung ihrer Leiden oder eine Entschuldigung kann den Betroffenen schon deshalb nichts bringen, weil viele ehemalige Heimkinder traumatisiert sind. Sie leiden bis heute unter Alpträumen, Depressionen, Angstzuständen und Suchterkrankungen. Ich frage mich, wie viele von ihnen ihr Leben durch einen Suizid beendet haben. Viele sind, zum Teil schon während ihrer Heimzeit, in psychiatrischen Anstalten oder in Gefängnissen gelandet. Von den Betroffenen, die von weitergehenden Freiheitsentziehungsmaßnahmen verschont blieben, hatten sehr viele nicht die Chance auf eine Schul- oder Berufsausbildung, sie wurden Hilfsarbeiter. Viele sind heute Sozialhilfeempfänger, Langzeitarbeitslose oder Frührentner.

Was erwarten Sie vom Runden Tisch in Berlin?

Wenn man sich anschaut, welche Querelen da im Vorfeld abgelaufen sind, einschließlich der Tatsache, dass hier weiter von Einzelfällen gesprochen wurde, dann würde ich sagen, das Ergebnis wird nicht viel bringen. Wichtig wäre ein uneingeschränktes Anerkenntnis des Staates und der Kirchen, dass die Misshandlung in den Heimen System hatte. Aber ich fürchte, das wird ein Traum bleiben. Außerdem muss es einen Fonds geben für jene ehemaligen Heimkinder, die heute in Armut leben, einen Fonds, in den die verantwortlichen Institutionen einzahlen. Das kann aber nur an zweiter Stelle stehen. Entscheidend ist ein unwiderrufliches Mea Culpa.

Mit Alexander Markus Homes sprach Hubertus Volmer

 

Alexander Markus Homes hat mehrere Bücher über Heime geschrieben. 2006 erschien "Heimerziehung: Lebenshilfe oder Beugehaft. Gewalt und Lust im Namen Gottes." Homes hat selbst bis zu seinem 17. Lebensjahr in Heimen gelebt.

Quelle: ntv.de

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