Dossier

"Sache wirkt entflammbar" Protest gegen Gastarbeiter

Nur scheinbar beschränkt sich der jüngste Aufruhr um Gastarbeiter in Großbritannien auf einen isolierten Fall irgendwo in der englischen Provinz. "Diese Sache wirkt entflammbar, und sie könnte jederzeit in fast jedem Land ausbrechen", warnt der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, John Monks. Ärger noch: Der verständliche Protest britischer Arbeiter gegen den Einsatz italienischer und portugiesischer Kollegen beim Bau einer Raffinerie rüttelt an den Grundfesten der Europäischen Union.

Freier Warenverkehr, grenzenloses Angebot von Dienstleistungen, volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer: Diese Grundlagen des Aufbauwerks in Europa geraten plötzlich ins Wanken, nachdem mächtige Banken mit windigen Spekulationsgeschäften Milliarden verspielt haben und die darbende Wirtschaft immer mehr Beschäftigte vor die Tür setzt. Wo der Verdacht entsteht, dass Menschen für Billiglöhne schuften, sind Abwehrreaktionen bis hin zur Ausländerfeindlichkeit die Folge, fürchtet der EGB-Generalsekretär.

Konkurrenzlose Dumpinglöhne


In Deutschland haben Dumpinglöhne schon vor dem britischen Fall mehrfach Schlagzeilen gemacht. Im April 2008 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Rechtsstreit um einen Gefängnisbau in Göttingen, dass der Staat die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht an spezielle Tarifverträge für die eingesetzten Beschäftigten koppeln darf. Das Land Niedersachsen konnte nicht verhindern, dass ein polnischer Subunternehmer dort 53 Arbeiter für weniger als die Hälfte des Tariflohns für öffentliche Bauten einsetzte.

Dieses Urteil sei "ein weiterer Schritt hin zum Raubtierkapitalismus, der dazu führen wird, dass die Bürger Europa endgültig ablehnen", schimpfte der Chef der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Klaus Wiesehügel, damals. Und der deutsche Fall war nicht der einzige. Viermal wog der EuGH bereits zwischen der Freizügigkeit und Arbeitnehmerrechten ab - und "er entschied 4:0 für die Freizügigkeit", klagt der Gewerkschafter Monks.

Arbeitnehmerrechte in Europa gehen verloren


Auch der englische Fall entsprach vermutlich rein formal dem geltenden EU-Recht. Der Ölkonzern Total vergab seinen Bauauftrag an ein Unternehmen aus Sizilien, das italienische und portugiesische Arbeiter mitbrachte. Eine unterlegene britische Firma entließ derweil 300 Beschäftigte. Nun beklagt der portugiesische Europa-Abgeordnete Joel Hasse Ferreira im Streit um die Gastarbeiter ein "Verhalten mit beunruhigenden anti-europäischen Zügen".

Fast beschwörend singt die EU-Kommission angesichts dieser Entwicklung das Loblied des europäischen Binnenmarktes. "Er schafft viele Arbeitsplätze, und man bekommt keine zusätzlichen Jobs, indem man einen Markt von anderen abschottet", betont Kommissionssprecher Johannes Laitenberger. Britische Firmen haben nach Brüsseler Angaben mehr Beschäftigte ins EU-Ausland geschickt als Entsandte auf die Insel kamen. Zugleich kehren viele Osteuropäer, die auf eigene Faust dort Arbeit fanden, wegen der Krise in ihre Heimat zurück.

Aufgeschreckt vom Aufruhr in England stießen die Sozialisten im Europa-Parlament am Mittwoch ins gleiche Horn wie die Kommission: "Wir müssen den Binnenmarkt und die Freizügigkeit für Kapital und Arbeit erhalten - jene Prinzipien, die einmaligen Wohlstand geschaffen haben und der Schlüssel zur Erholung unserer Länder von der Finanzkrise sind." Dafür seien aber neue Regeln nötig, mahnt EGB-Generalsekretär Monks. Die bestehenden EU-Gesetze hätten nicht verhindert, dass Arbeitnehmerrechte in ganz Europa verloren gingen.

Roland Siegloff, dpa

Quelle: ntv.de

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